4 Meereschemie
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System Nordsee
4.5.2 Quellen künstlicher Radionuklide
Die atmosphärischen Kernwaffentests der 1950er und 1960er Jahre führten über ra
dioaktive Niederschläge (Fallout) zu einer globalen Kontamination mit künstlichen Ra
dionukliden. Die Aktivitätsverteilung dieser Nuklide im Oberflächenwasser des Nord
atlantik stellt für die Nordsee eine Vorbelastung bzw. Hintergrundkonzentration dar,
die hier durch andere regionale Belastungsquellen überlagert und verstärkt wird.
So dominierten mit Beginn der 1970er Jahre die kontrollierten und genehmigten Ab
leitungen radioaktiver Abwässer der europäischen Wiederaufarbeitungsanlagen für
Kernbrennstoffe La Hague (Frankreich) und Sellafield (Großbritannien) die Aktivitäts
konzentrationen künstlicher Radionuklide in der Nordsee. Die Kontaminationen der
Irischen See (Sellafield) bzw. des Kanals werden mit den Meeresströmungen in an
dere Meeresgebiete verfrachtet und erreichen die Nordsee über die nordwestliche
Öffnung zum Atlantik (Sellafield) bzw. über die Straße von Dover. Die Transportzeiten
von La Hague bzw. Sellafield bis in die Deutsche Bucht belaufen sich auf etwa ein
bzw. drei Jahre, weshalb nur langlebige Radionuklide mit Halbwertszeiten >1 Jahr
von Interesse sind (Bailly Du Bois und Dumas 2005).
Internationale Anstrengungen - z. B. im Rahmen des Oslo/Paris-Übereinkommens
(www.ospar.org) - haben bewirkt, dass die in den 1970er Jahren sehr hohen Einleitun
gen beider Wiederaufbereitungsanlagen kontinuierlich reduziert wurden. Das Meer
wasser der Nordsee ist deshalb inzwischen nur noch sehr gering durch künstliche
Radionuklide belastet.
Ein Großteil der Belastung durch 137 Cs und Transurane resultiert inzwischen aus re-
suspendierten Partikeln des Sediments der Irischen See und weniger aus den gegen
wärtigen Ableitungen der Wiederaufarbeitungsanlagen (Kershaw et al. 1999). Das
Sediment der Irischen See wurde vor allem in den 1970er Jahren hoch kontaminiert.
Die Quellstärke des Sediments für 137 Cs wird auf 50 bis 70 TBq/Jahr geschätzt, was
ungefähr dem 10fachen der gegenwärtigen Einleitungen entspricht. Resuspension
wird sowohl durch natürliche Ereignisse wie Stürme, als auch durch menschliche Ak
tivitäten wie Grundnetz- und Baumkurrenfischerei hervorgerufen.
Die Oberflächensedimente der Nordsee sind großteils sandig, was eine nur schwache
Tendenz zur Anreicherung von Radionukliden beinhaltet. An den wenigen Stationen,
z. B. auf der Weissen Bank oder im Schlickfallgebiet südöstlich Helgoland, bei de
nen man überhaupt eine Anreicherung von künstlichen Radionukliden im Sediment
feststellen kann, liegen die spezifischen Aktivitäten für 137 Cs unter 5 Bq/kg, für Trans
urane unter 1 Bq/kg Trockenmasse. Zum Vergleich: die spezifische Aktivität des na
türlichen 40 K in diesen Sedimenten liegt zwischen 300 und 600 Bq/kg. Das Sediment
ist in den meisten Gebieten bis in 40 cm Tiefe weitgehend durchmischt, so dass sich
keine Informationen über unterschiedliche Eintragzeiten im relevanten Zeitraum der
vergangenen 50 Jahren ableiten lassen. Dieser Umstand indiziert, dass die Abreiche
rung der Wassersäule durch Sedimentation ein durch Wiederfreisetzung abgelagerter
Radionuklide umkehrbarer Prozess ist. Die seit einigen Jahren relativ konstanten Vo
lumenaktivitäten von 137 Cs und 90 Sr (Abb. 4-57) deuten möglicherweise auf ein Gleich
gewicht dieser Austauschprozesse hin.
Der Fallout infolge des Reaktorunfalls von Tschernobyl im April 1986 ist nur noch im
Ausstrom des Ostseewassers nachweisbar, das die Nordsee über die norwegische
Rinne verlässt. Ableitungen aus Kernkraftwerken oder anderen kerntechnischen Ein
richtungen spielen für das Aktivitätsinventar der Nordsee kaum eine Rolle. Sie sind al