3 Meeresphysik
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System Nordsee
3.4.3 Gezeiten
Der Wasserspiegel der Nordsee ist an jedem Ort immer bestrebt, sich senkrecht zum
örtlichen Vektor des Schwerefeldes einzustellen. Dieser Vektor unterliegt sehr kleinen
Störungen, die durch Mond und Sonne verursacht werden und Gezeitenbeschleuni
gungen genannt werden. Nur in großen Ozeanen mit Wassertiefen von wenigen Ki
lometern verursachen die Gezeitenbeschleunigungen Wasserstandsschwankungen
von wenigen Dezimetern. Diese im offenen Ozean erzeugten langen Gezeitenwellen
dringen in die Nordsee ein und erfahren hier wegen der abnehmenden Tiefe und
Form des Nordseebeckens eine Amplitudenzunahme. Der Gezeitenhub an der deut
schen Nordseeküste erreicht bis zu 4 m. Der direkte Einfluss der örtlichen Gezeiten
beschleunigungen auf die Wassermassen der Nordsee ist sehr klein und beträgt le
diglich wenige Millimeter bis Zentimeter (Müller-Navarra 2002). Es handelt sich hier
also hauptsächlich um Mitschwingungsgezeiten. Der Einfluss vom Mond ist deutlich
größer als der von der Sonne, weswegen die Gezeiten der Nordsee im Mittel eine
Periode von etwas mehr als einen halben Tag (12,42 h) haben und als halbtägige
Gezeiten bezeichnet werden.
Langfristige Änderungen der Gezeiten, sei es aus astronomischen Gründen oder weil
sich die Küstengestalt und die Tiefenverteilung der Gezeitengewässer geändert hat,
fließen verfahrensbedingt Jahr für Jahr in die vorausberechneten Werte in den deut
schen Gezeitentafeln ein (Anonymus 2009). So hat sich der mittlere Tidenhub (MTh)
von ungefähr 3 m in Cuxhaven seit den 1950er Jahren nur unwesentlich verändert,
während das mittlere astronomische Hochwasser (MHW) und das mittlere astronomi
sche Niedrigwasser (MNW) mit dem relativen mittleren Meeresspiegel (s.u.) anstie-
gen. Die langjährigen Veränderungen dieser Art haben z. B. Jensen und Mudersbach
(2007) analysiert. So haben sich an den Küstenpegeln die Gezeitenverhältnisse et
was stärker geändert als an den Inselpegeln, was teilweise mit Küstenschutzmaßnah
men und Ausbaumaßnahmen der Schifffahrtswege zusammenhängt.
3.4.4 Mittlerer Meeresspiegel
Der mittlere relative Meeresspiegel (RSL) in Cuxhaven, der monatlich oder jährlich
aus stündlichen Wasserstandsregistrierungen abgeleitet wird, schwankt wegen der
Wetterabhängigkeit so stark, dass aus 2 aufeinanderfolgenden Jahren (2006 - 2007)
keine zeitliche Änderung des Anstiegs, z. B. ein beschleunigter Meeresspiegelanstieg,
abgeleitet werden kann. Zur Beurteilung der lokalen Entwicklung der Wasserstände
über viele Jahre sind die Monatsmittelwerte gleichwohl hervorragend geeignet.
Vergleicht man die zeitlichen Änderungen der Wasserspiegellage der Jahre 2006 bis
2007 mit einem beliebigen Referenzzeitraum des 20. Jahrhunderts, so stellt man le
diglich unbedeutende Veränderungen fest, die wenig bis gar keinen Bezug zu rezenten
Klimaänderungen zeigen. Aus klimastatistischen Gründen sollten Referenzzeiträume
mindestens die Länge von 30 Jahren haben (z.B. 1961 - 1990). Deswegen sind auch
fernerkundete globale Mittelwerte der Wasserspiegellage und daraus abgeleitete Ver
änderungen noch unsicher. Zudem muss immer beachtet werden, dass punktuelle
Mittelwerte, Mittelwerte über mehrere Orte entlang einer Küste oder gar Flächenmittel
unterschiedliche geophysikalische Prozesse widerspiegeln.
Aussagekräftige Analysen liefern aus stündlichen Pegelständen z(t) abgeleitete Mo
natsmittelwerte. Sie enthalten nur noch sehr kleine Gezeitenanteile und die Variabilität
des Wetters tritt deutlich hervor (Abb. 3-12). Monate mit ausgeprägten Westwindlagen