Die Küste, 75 MUSTOK (2009), 255-265
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Technologiezentrum (FTZ) Büsum entwickelten hydrodynamischen und morphodyna-
mischen Modelle wurden mit Hilfe von Messdaten kalibriert und verifiziert. Die Simulati
onsergebnisse weisen gute Übereinstimmung mit Naturdaten auf (Bruss et ah, 2009; Jimenez
et ah, 2009).
Im Wesentlichen impliziert das Verfahren zwei Schritte: Zunächst wird die Höhe der
Küstenschutzanlage (z. B. Deich) auf Grundlage der extremen Belastungsszenarien unter
Berücksichtigung der lokalen Topographie und der geplanten oder vorhandenen Geometrie
des Bauwerkes definiert oder überprüft. Hierzu werden hochauflösende Strömungs- und
Seegangsmodelle des jeweiligen Küstenabschnittes verwendet. Für jeden Sturm wird der
zeitliche Verlauf des Wellenauflaufes auf das Bauwerk gemäß dem EurOtop-Manual (2007)
bestimmt, wobei Wasserstand und Seegangsparameter am Deichfuß mit den lokalen Model
len ermittelt werden. Deichquerschnitte können auf diese Weise anhand unterschiedlicher
Belastungsfälle optimiert werden. Die Topographie wird in diesem Schritt als unveränderlich
angenommen.
Um den ungünstigsten Fall der Sturm-Gesamtbelastung auf die Küste abschließend
bestimmen zu können, werden danach in einem zweiten Schritt die morphodynamischen
Reaktionen des Strandes und Vorstrandes sowie ihr interaktiver Einfluss auf die Seegangs
entwicklung während des Sturmereignisses mit berücksichtigt. Zu diesem Zweck werden
morphodynamische Modellsimulationen in Verbindung mit den meteorologischen Sturm
szenarien und der Rekonstruktion des Sturmes von 1872 verwendet. Durch diese differen
zierte Betrachtung des zeitlichen Ablaufes einzelner Stürme können sowohl akkumulierte
Sturmwirkungen, etwa in Form des Energieeintrages auf den betrachteten Strandabschnitt,
als auch die zeitliche Entwicklung von Wasserstand und Wellenauflauf, und damit die Dauer
der Belastung, berücksichtigt werden. Danach werden die Simulationen im Küstenvorfeld
mit morphodynamischen Modellen über längere Zeitperioden von 5 bis 10 Jahren unter
Einbeziehung der Beschaffenheit des Meeresgrundes und einer Abschätzung der lang
fristigen Sedimentverfügbarkeit durchgeführt. Dies erlaubt eine optimierte Bemessung der
Küstenschutzanlagen, bei der die dauerhafte Standfestigkeit in der Strandzone gewährleistet
werden kann.
Für das Sturmhochwasser von 1872 wurde erstmals die flächendeckende Entwicklung
von Wasserstand und Seegang rekonstruiert (Bruss et ah, 2009; Jimenez et ah, 2009). Der
Vergleich der ausgewählten Sturmszenarien mit dem Ereignis von 1872 führt zu den örtlich
jeweils höchsten Belastungen. Aus der Analyse der resultierenden Scheitelwasserstände und
des Seegangs konnten die folgenden Erkenntnisse für die deutsche Ostseeküste gewonnen
werden: An der Außenküste der Pommerschen Bucht wurde der bislang maßgebende Sturm
von 1872 durch einige der Szenarien sowohl in den Scheitelwerten als auch in den Verweil
dauern deutlich übertroffen. Daraus lässt sich hier auf ein erhöhtes Gefährdungspotential für
die Deichsicherheit schließen. Für den Nordwesten der deutschen Ostsee, z. B. für den Be
reich um Flensburg, haben die Szenarien mit dem Ereignis von 1872 vergleichbare, in der
Mecklenburger Bucht dagegen etwas niedrigere Scheitelwasserstände ergeben. Damit wird
für die Kieler und die Mecklenburger Bucht der Sturm von 1872 als maßgebendes Ereignis
für den Bemessungswasserstand bestätigt. In den Szenarien sind dennoch für die meisten
Strandabschnitte der Außenküste mehrere Sturmereignisse mit Scheitelwasserständen über
2,5 m NN enthalten, die gemäß der Klassifikation nach Meinke (1999) als sehr schwere
Sturmfluten einzustufen sind. Aus der Seegangsimulation der untersuchten Stürme wurde
zudem die Größenordnung und räumliche Verteilung der Seegangsbedingungen entlang der
gesamten deutschen Ostseeküste bei extremen Ereignissen bestimmt. Maximale signifikante
Wellenhöhen an der 10-m-Tiefenlinie liegen in den geschützteren Bereichen der Außenküste