Die Küste, 75 MUSTOK (2009), 255-265
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„vorgefüllt“. Darauf unmittelbar aufsetzende Sturmhochwasser-Simulationen zeigten dann
die relativ kleine Bedeutung dieser manipulierten Anfangsbedingungen für die Scheitelwas
serstände. In einem anderen Experiment mit einem hohen Wasserstand in St. Petersburg
wurde nach dem Eintreten des dortigen Scheitelwasserstandes der meteorologische Antrieb
abgeschaltet. Während der Ausgleichsprozesse traten zwar Schwingungen auf, waren aber
ohne Einfluss auf den Scheitelwasserstand in der westlichen Ostsee. In der südlichen und
zentralen Ostsee durch Wind und Luftdruck erzeugte, lange Oberflächenwellen, deren Wir
kungen sich erst nach etwa 4-8 h an den Küsten der westlichen Ostsee zeigen, sind hingegen
von großer Bedeutung für die Wasserstände.
Durch die Untersuchungen im MUSE-Ostsee-Projekt existiert nun eine klarere Vorstel
lung darüber, welchen atmosphärischen Antrieb Sturmhochwasser in der Westlichen Ostsee
benötigen, damit dort extrem hohe Scheitelwerte auftreten können. Die Westliche Ostsee ist
ein Gebiet mit komplexer, kleinräumiger Land-Wasser-Verteilung, und es gibt räumlich sehr
unterschiedliche Wetterlagen und Windrichtungen mit Potential für Sturmhochwasser. Aus
diesem Grunde sind empirische Verfahren zur Wasserstandsvorhersage nur sehr einge
schränkt nutzbar, weshalb in der Praxis eine Kombination aus Empirie und numerischen
Vorhersagemodellen verwendet wird.
Als Erkenntnisse aus dem Projekt können angeführt werden, dass
- Sturmhochwasserstände sehr von der Ausdehnung und zeitlichen Entwicklung der
Starkwindfelder abhängen,
- die Bandbreite optimaler Starkwindfelder für die Mecklenburger Bucht und beson
ders für die Kieler Bucht gering ist,
- die Bandbreite optimaler Starkwindfelder für Sturmhochwasser in der Pommerschen
Bucht relativ groß ist,
- extrem hohe Scheitelwasserstände wenig von der jeweiligen Vorgeschichte abhän
gen,
- in der Rekonstruktion des Sturmhochwassers im November 1872 die Ostsee nicht
extrem angefüllt war und
- dass die Scheitelwasserstände beim Sturmhochwasser am 13. 11. 1872 nicht von dem
Sturm am Vortage ab hingen.
Bestätigt wurden vereinzelt in der Literatur geäußerte Vermutungen über die Genese
von Ostsee-Sturmhochwassern, z. B.
- dass in der Kieler Bucht die Gezeitenphase zu Beginn einer Simulation die Höchst
wasserstände bei Sturmhochwassern beeinflusst und ein Abfließen des Wassers durch
den Großen Belt durch Windstau im südlichen Kattegat zusätzlich behindert sein
kann.
Kontrovers diskutiert und nun durch MUSE-Ostsee bestätigt wurde,
- dass Ablauf und Entwicklung extremer Sturmhochwasser der westlichen Ostsee nicht
mit den einfachen physikalischen Konzepten „Vorfüllung“ und „Eigenschwingungen“
der Ostsee kompatibel oder gar erklärbar sind.
Anders als bei MUSE-Nordsee waren im Projekt MUSE Ostsee bisher eingetretene
Sturmhochwasser-Wetterlagen kaum hilfreich für das Auffinden extremer noch nicht einge
tretener Sturmhochwasser. Eine mögliche Erklärung hierfür ist die festgestellte, besondere
Sensibilität der Scheitelwasserstände bei Sturmhochwassern in der Kieler und Mecklenbur
ger Bucht gegenüber kleinen Abweichungen von den „optimalen“ Sturmhochwasser-Wet
terlagen. Deshalb sind hier die Simulationsergebnisse aus dem BSH-Teilprojekt, erzielt mit
dem atmosphärischen Antrieb aus dem „Ensemble Prediction System“ (EPS) tabellarisch den
bisher höchsten gemessenen Wasserständen gegenübergestellt (Tab. 1).