Die Küste, 75 MUSTOK (2009), 71-130
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Unter den extremen Sturmhochwassern des Projekts MUSE-Ostsee findet sich ein Ziel
termin mit einer Zugbahn des Sturmtiefs aus Nordost (Schmitz, 2007), was einen hohen Stau
in St. Petersburg begünstigt (Averkiew u. Klevanny, 2007). Für die Realisation mit dem
höchsten Wasserstand in St. Petersburg (1971_35b0bv, Tab. 7b) wurde der Einfluss von Sei
ches auf den Wasserstand in der westlichen Ostsee untersucht (Kap. 4.3.2). Dem vorangestellt
ist ein Abriss des Kenntnisstandes zum Thema, um der simplen Vorstellung von der Ostsee
als geschlossenem Kanal mit Schwingungsperioden nach der für rechteckige Gefäße ent
wickelten Merianschen Formel (Merian, 1828) entgegenzuwirken.
4.3.1 Eigenschwingungen
Unter (barotropen) Eigenschwingungen (Seiches) werden freie Oberflächenwellen ver
standen, die sich in einem ganz oder vorwiegend durch Küsten begrenzten Seegebiet zu
stehenden Wellen überlagern und im Wesentlichen eine Funktion von Küstenverlauf und
Bodentopographie sind. In der Theorie freier linearer Wellen bedeutet „frei“ im Potentialfeld
der Erde und unter Einfluss der Erdrotation. Dagegen wird das (astronomische) Gezeiten
potential als extern und Gezeitenwellen als erzwungene definiert (Müller, 2006; Leppä-
ranta u. Myrberg, 2009), die im Bereich freier Wellen Resonanzerscheinungen aufweisen.
In dieser Definition sind dann aber auch Schwingungen in windstillen Phasen erzwungene
Schwingungen, weil das System unter dem Einfluss der permanent wirkenden gezeitenerzeu
genden Kräfte steht. Zusätzlich wird dem System am offenen Rand eine Schwingung (Mit-
schwingungsgezeit) aufgezwungen. Für kleine abgeschlossene Seen und kleine Buchten ist
der Einfluss von Erdrotation und Gezeitenpotential vernachlässigbar und Eigenschwingun
gen sind klassische Seiches (Halbfass, 1907; Chrystal, 1905; LeBlond u. Mysak, 1978).
In allen Fällen macht Bodenreibung und interne Reibung die Schwingungen zu gedämpften
(Magaard u. Krauss, 1966). An offenen Rändern ergibt sich eine zusätzliche Dämpfung
durch Abstrahlung von Wellenenergie.
Theoretisch wurden Eigenschwingungen zuerst in analytischen Modellen von recht
eckigen Behältern, Kanälen und Seen untersucht (Merian, 1828; Forel, 1901; Chrystal,
1905). Für die Ostsee hat WiTTiNG (1911) auf die Möglichkeit von Eigenschwingungen hin
gewiesen. EndröS (1939) greift diese Idee wieder auf, um einen besonders niedrigen Wasser
stand in der westlichen Ostsee zu erklären. Neumann (1941) interpretiert Pegelaufzeichnun
gen nach extremen Auslenkungen der Wasseroberfläche der Ostsee als Eigenschwingungen
eines geschlossenen Kanals konstanter Tiefe und findet eine starke Dämpfung. Aus Strom
messungen am Feuerschiff „Fehmarnbelt“ leitet Weidemann (1950) für diesen Ort eine noch
höhere Dämpfung ab. Er führt dies auf „die Enge und Seichtheit der westlichen Ostsee im
Vergleich zur zentralen Ostsee“ zurück. Pegelmessungen in der Kieler Förde und Eckern-
förder Bucht sind von Geyer (1964) als Eigenschwingungen einseitig offener Kanäle kons
tanter Tiefe aber mit variablem Querschnitt im Zusammenspiel mit Eigenschwingungen der
Kieler Bucht interpretiert worden.
Der Einfluss unterschiedlicher Bodenprofile wurde ebenfalls früh in analytischen Mo
dellen geklärt (Chrystal, 1905). Die komplexe Bodentopographie der Ostsee konnte aber
erst in numerischen Modellen berücksichtigt werden (Wübber u. Krauss, 1979; Kulikov u.
Fine, 2008). In numerischen Simulationen (JöNSSON et al., 2008) erwies sich das Schwin
gungsverhalten der Ostsee abhängig von der Güte der numerischen Darstellung der Boden
topographie. Bei genügend feiner Auflösung sind danach die Schwingungen einzelner Buch
ten und Meeresbusen voneinander entkoppelt und die Schwingungsmuster der zentralen