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Ann. d. Hydr. etc., X. Jalirg. (1882), Heft II.
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Die Ebbe- und Fluth-Erscheinungen im Golf von Tongkin
und in der China-See.
Von Korv.-Kapt. P. Hoffmann.
(Mit einer Kurventafel, s. Taf. 4.)
Die Gezeiten des Golfs von Tongkin haben von jeher ein besonderes
Interesse in Anspruch genommen. Es giebt kaum ein Lehrbuch der physika
lischen Geographie, welches nicht an der bezüglichen Stelle die Bemerkungen
enthielte: „Merkwürdig verläuft die Ebbe und Fluth im Golf von Tongkin. Dort
findet während eines Tages nur einmal Fluth und einmal Ebbe statt“. Diese
Bemerkung datirt von einem Bericht des Kapt. Davcnport, welcher in den
„Philosophical Transactions of the Boyal Society of London“ im Jahre 168S
erschien und von den Gelehrten damaliger und späterer Zeit (Newton,
Laplace u. a.) verschiedentlich kommentirt worden ist.
Einige Beobachtungen der Ebbe und Fluth, welche von deutschen Kriegs
schiffen in den letzten Jahren sowohl im Golf von Tongkin, als auch auf den
Inseln der Paracel-Gruppe angestellt wurden, waren die Veranlassung, das
Problem der Gezeiten im Golf von Tongkin wieder aufzunehmen. Es war möglich,
auch sonst noch einiges Material zu sammeln, um den Verlauf der Erscheinungen
an der Hand der neueren Forschungen zu untersuchen.
Wenn auch präcise Zahlenwerthe nicht im Folgenden als Resultat der
Untersuchung erscheinen können, so wird sich doch ergeben, dafs die Fluthen
im Golf von Tongkin nicht als eine Anomalie auftreten, sondern vielmehr als
ein besonders schön ausgeprägtes Beispiel einer ganzen Klasse von Gezeiten
betrachtet werden müssen.
Es ist bekannt, dafs die Küsten Süd- und Ost-Asiens im Allgemeinen
Gezeiten aufweisen, welche sich von denen Europa’s wesentlich durch die grofse
tägliche Ungleichheit unterscheiden. Als Whewell das Gesetz der täglichen
Ungleichheit an den Gezeiten von Singapore erörterte, wies er darauf hin, dafs
die Eintagsfluthen weiter im Norden mit dieser Erscheinung Zusammenhängen
könnten. Diese Annahme hat stillschweigend wohl allgemein Eingang gefunden,
jedoch lagen bisher direkte Beobachtungen des vollständigen Verlaufs nicht
vor. Die jährlich erscheinenden französischen Vorausberechnungen jener Gegend
beschränken sich ausschliefslich auf die Angabe von Eintagsfluthen.
Die Gezeiten des Nördlichen Stillen Oceans unterscheiden sich allgemein
von denen des Nordatlantischen Oceans durch das charakteristische Gepräge,
welches ihuon die grofse tägliche Ungleichheit giebt, während im Nordatlantischen
Ocean diese Ungleichheit nur in wenigen Fällen ein zu vernachlässigendes Mafs
übersteigt.
Die Theorie der Ebbe und Fluth verlangt, um dies hier kurz zu erwähnen,
eine Ungleichheit in den Höhen (und damit auch nothwendig in den Zeiten)
der beiden Fluthwellen eines Tages. Das Fluthellipsoid, welches vom Monde
erregt wird, oscillirt, der Deklination dieses Gestirns folgend, um die Ebene
des Aequators.