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Während die Erde um sich selbst rotirt, behält das Fluthellipsoid seine
Stellung bei. So folgen sich an einem Ort des wasserüberdeckten Erdballs
täglich zwei ungleiche Fluthwellen, welche wegen der schnell ändernden Mond
deklination von einem Tage zum andern ihre Gestalt wechseln und, wenn der
Mond den Aequator passirt, gleich grofs sind.
Ein ähnlicher Kreislauf wechselnder Erscheinungen, wie der Mond in
einem Umlauf, wird die Sonne in einem Jahr hervorrufen. Wir beobachten nur
den vereinigten Effekt beider Gestirne und werden daher grofse tägliche Un
gleichheiten erwarten müssen, wenn Sonne und Mond gemeinsam ein Fluthellipsoid
bilden, also wenn beide Gestirne bei gleicher Deklination in demselben Meridian
oder bei ungleicher Deklination im entgegengesetzten Meridian stehen.
Befinden sich Sonne und Mond aber bei gleicher Deklination um 180°
von einander entfernt, oder bei ungleicher Deklination in demselben Meridian,
so müssen umgekehrt die täglichen Ungleichheiten geringer auftreten.
Man ersieht, dafs die tägliche Ungleichheit das ganze Jahr hindurch
wechselnde Werthe annehmen mufs.
Solche stetig wechselnden Erscheinungen, abhängig von der Deklination
der Sonne und des Mondes, trifft man in der That in der Natur überall an, wo
eine grofse tägliche Ungleichheit beobachtet wird. Aber die geographische
Yerbreitung dieser Erscheinungen entspricht der Theorie nicht, und man wird
darauf hingowiesen, andere Ursachen aufzusuchen, welche eine Abschwächung
oder Verstärkung der täglichen Ungleichheit zur Folge haben.
Allgemein geht die moderne Anschauung dahin, dafs Ebbe und Fluth
nicht als ausschliefslich primärer Effekt von Sonnen- und Mondanziehung aufzu
fassen ist, sondern als eine schwingende stationäre Bewegung, welche durch
Interferenz einer primären und einer reflektirten Welle bedingt wird. Diese
schwingende Bewegung folgt in dem relativen Verlauf ihrer Dauer und Amplitude
zwar den Schwankungen der erregenden Kräfte (den Elementen der Mond- und
Sonnenbahn), die absoluten Werthe aber sind ein Produkt aus den Beziehungen
der Grofse und Tiefe des Wasserbeckens zur Schwerkraft und zu den Reibungs
widerständen.
Die Gesetze solcher stationären Wellen sind theoretisch und experimentell
in gewissem Mafse erforscht und haben sich in der Natur bestätigt gefunden
in den sogenannten „Seiches“ der Schweizer Seen.
Wenn man die Aufzeichnungen des selbstregistrirenden Pegels (limnimetre)
zu Morges am Genfer See betrachtet, 1 ) so sieht man bei einigen derselben
Interferenzerscheinungen auftreten, welche einen sehr ähnlichen Verlauf der
Kurven zur Folge haben, wie die Fluthkurven grofser täglicher und halbmonat
licher Ungleichheit.
Diese Aufzeichnungen haben sich analysiren lassen als Kurven dreier
Wellensysteme: örtlich longitudinaler Seiches, transversaler Seiches und Fort
setzung der longitudinalen Seiches, welche in der ganzen Länge des Genfer Sees
schwingen.
Die Schwingungsdauer eines jeden Systems bleibt immer dieselbe, so
verschieden auch die Höhen beobachtet werden. Bei Beobachtungen an andern
Uferstationen erkennt man an der Periode, welche der zu Morges registrirten
Seiches man vor sich hat.
Das Gesetz solcher stationären Wellen von grofser Länge läfst sich durch
die einfache Formel ausdrücken:
_ 1
* — Vit ’
worin t die Dauer einer halben Schwiugung (Fortpflanzungszeit von Ufer zu
Ufer), 1 die Entfernung der gegenüberliegenden Küsten und h die Tiefe des
Beckens bezeichnet.
Die Geschwindigkeit ist unabhängig von der Höhe der Welle. In der
Mitte zwischen beiden Ufern ist die Amplitude nahe Null, und es tritt an
Reproducirt in Band 56 der „Arcliives des Sciences phys. et nat. Genev.