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Etwas nach Mittag waren auch an der deutschen Nordseeküste, stellen
weise auch an der westlichen Ostsee, wohin sich die rapide Abnahme des Luft
drucks fortgepflanzt hatte, Sturmböen eingetreten. In Keitum war um l h p. m.
der Wind von SSE nach SW umgesprungen und hatte dann rasch die Stärke
eines vollen Sturmes erreicht. Das Regengebiet war weit über die Odermündung
hinaus vorgedrungon. Um 2 Uhr Nachmittags herrschte an allen Signalstellen
von Norderney bis Stolpmünde Regenwetter, nur in Keitum war der Himmel
halb, in Borkum */* bedeckt. In den letzten sechs Stunden bis 2 h p. m. waren
die Aenderungen des Luftdrucks, insbesondere im westdeutschen Küstengebiete,
aufserordentlich grofs; in Keitum war das Barometer gefallen um 12,9, in Kiel
um 11,5, in Hamburg um 10,0, in Swinemünde, Kassel und Leipzig um 7 mm.
Ausbreitung des Sturmes über die ganze deutsche Küste war wahr
scheinlich, und daher wurde auch für den östlichen Theil der Ostsee (von Swine
münde bis Memel) das bereits angeordnete Signal „Ball“ durch „mäfsiger
Südweststurm“ ersetzt.
Bis etwa 2 Uhr war in Hamburg das Wetter ziemlich ruhig, nur einige
heftige Regenböen hatten vorher geweht, allein Sturmesstärke hatten dieselben
nicht erreicht. Um 37* Uhr klarte es im westlichen und südwestlichen Horizonte
auf, dann folgten einige schwere Böen aus SSW. Um 37s Uhr zeigte sich
blauer Himmel im Zenith. Am Nordosthorizonte lagen über einer niederen
langgezogenen Wolkenmasse dichte Haufen wölken, darüber ein dichter Teppich
oirro-strati, oben begrenzt von einzelnen Federwolken. Dieses Aufklaren war
an der deutschen Nordseoküste meistens schon vor 2 Uhr erfolgt und dann
meist mit nachfolgender Zunahme des Windes. In Glückstadt trat dasselbe ein
um 27» Uhr, in Kiel etwa um 3 Uhr, in Hamburg um 37* Uhr, in Wismar vor
4 Uhr, in Warnemünde (und Travemünde '!) um 5 Uhr, in Arkona um 6 Uhr
und in Swinemünde um 8 Uhr. Das Anschwellen des Windes erfolgte in Borkum
Mittags zwischen 12 und 1 Uhr, in Wilhelmshaven und Keitum zwischen 2 und
3 Uhr, in Hamburg und Kiel zwischen 3 und 4 Uhr, in Wustrow zwischen
4 und 5 Uhr, in Swinemünde zwischen 5 und 6 Uhr und in Neufahrwasser
zwischen 7 und 8 Uhr. Dabei zeigte sich die eigenthümliche Erscheinung, dafs
die Winde vor oder bei Eintritt der gröfsteu Stärke ausschossen, dann aber
meistens wieder langsam zurückdrehten. Diese Erscheinung hängt offenbar
zusammen mit dem Vorübergang sekundärer Bildungen, die ich noch unten
weiter besprechen werde. Gleichzeitig ging das rapide Fallen des Barometers
in ein langsames über, so dafs sich das obige Phänomen in den beigegebenen
Barographenkurven ganz deutlich wiederspiegelt. Da jetzt auch die Winde an
Stärke etwas nachliefsen, so schien die gröfste Gefahr vorüber zu sein, allein
schon nach einigen Stunden frischten die Winde wieder rasch auf und erreichten
in den einzelnen Stöfsen eine orkanartige Gewalt.
Besonders interessant und in mancher Beziehung lehrreich ist die Wetter
karte vom 14. Oktober 8 Uhr Abends. Auf derselben liegt das Minimum mit
unveränderter Tiefe (720mm) hart an der Nordwestküste Jütlands, wo nur
schwache Winde herrschen, seinen Wirkungskreis über ganz Westeuropa bis
nach dem Innern Russlands hin ausdehnend. Im ganzen Umfang des Minimums
herrscht Sturm. Die Stürme über England, Schottland, der Nordsee und dem
Kanal dauern fort und haben sich bis zum Fufse der Alpen ausgebreitet, auch
über der westlichen Ostsee sowie an den Südküsten Norwegens herrscht meist
voller Sturm; dagegen im östlichen Ostseegebiete wehen meist nur starke süd
liche und über Skandinavien, aufser an den Südküsten, nur schwache Winde,
welche theilweise unter dem Einflüsse des Minimums bei Jütland, theilweise
unter demjenigen der im hoben Norden verschwindenden Depression stehen.
Hervorzuheben ist, dafs die durch die Luftdruckvertheilung gegebenen
Windverhältnisse äufserst günstig waren, grofse Wassermassen an unserer
Nordseeküste anzustauen und in die Flufsmündungen hineinzutreiben. Die
Wetterkarte giebt uns ein anschauliches Bild derjenigen Kräfte, welche bei dem
Zustandekommen und der Entwickelung der Sturmfluth tbätig waren, die in der
Nacht die Bewohner der Unterelbe in Schrecken versetzte. Ueber der west
lichen Ostsee wehten südliche und südwestliche Winde, am Eingänge der Ostsee
östliche, durch welchen Umstand das Wasser aus der Ostsee in die Nordsee
getrieben wurde. Von der anderen Seite trieben die westlichen Winde im Kanal