W. Horn: Die astr. Grundlagen des harmon. Verfahrens usw.
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"I, Das harmonische Verfahren zur Berechnung der Gezeiten ist bisher von einigen Ländern auch zum
Gebrauch an Bord eingeführt worden. In den zu diesem Zweck hcrausgegebenen Tafeln kann im allgemeinen
des beschränkten Raumes wegen nur die Handhabung des Verfahrens erläutert werden, während auf eine ein
gehende Begründung verzichtet werden muß. Von nachdenklicheren Benutzern der Tafeln und vor allem im
Hinblick auf den Unterricht an den verschiedenen Schulen wird daher besonders eine Erläuterung des Zu
sammenhangs des Verfahrens mit den geläufigen Grundbegriffen der Astronomie und eine anschauliche Deu
tung der einzelnen Tiden vermißt. Diese Darstellung soll an die Grundlagen möglichst in der Form, in der
sie von den wissenschaftlichen Instituten bei der Gezeitenvorausberechnung angewandt werden, mit Angabe
der Zahlenwerte und ihres Zustandekommens heranführen.
Das in Frage kommende deutsche Schrifttum ist sehr knapp. Zunächst sind zwei in früheren Jahrgängen
der „Annalen der Hydrographie usw.“ erschienene Arbeiten von Borgen 1 ) und von van der Stok 2 ), diese bear
beitet und übersetzt von Herrmann, zu nennen. Die ersten Abschnitte der Abhandlung von Borgen, in denen
er D a r w i n s harmonische Analyse der Gleichgcwichtsgezeit mit Airys „Wellentheorie“ für Kanäle ver
band, verdienen als gründlichere Einführung und um ihrer Bedeutung für die deutsche Gezeitenwissenschaft
willen auch heute noch gelesen zu werden. Borgen schreibt als Astronom für Astronomen, wie fast alle
grundlegenden Abhandlungen zu Fragen der Gezeitenvorausberechnung geschrieben sind, und setzt daher
einige, nämlich alle gerade erforderlichen Kenntnisse aus der Lehre von den Bewegungen der Erde um die
Sonne und des Mondes um die Erde voraus. Gewisse Abschnitte seiner Arbeit sind daher im allgemeinen
weder dem Ozeanographen noch dem Navigationslehrer ohne Mühe verständlich. Außerdem verwendet er
heute veraltete astronomische Unterlagen und bezieht insbesondere nach dem Vorgänge Darwins die den
Mond betreffenden Größen auf die Mondbahn, während neuerdings im Anschluß an D o o d s o n 3 ), der von
der Theorie der Bewegung des Mondes von Brown ausgeht, die Ekliptik als Bezugsebene gewählt wird.
Van der Stok schließt wie Borgen an Darwins Art der Entwicklung an. Seine Arbeit steht, wie
auch ihr Titel besagt, Borgens Abhandlung an Strenge wesentlich nach, stellt aber eine sehr geschickte,
vielseitige und leicht verständliche Einführung in die Grundlagen des harmonischen Verfahrens dar. Für den
hier betrachteten Zweck ist sie nicht eingehend genug.
Rauschelbach hat in einer Arbeit 4 ), die bisher anscheinend die einzige auf Doodsons Ergeb
nissen weiterbauende geblieben ist, dessen Entwicklung zur Grundlage der harmonischen Analyse von Ge
zeitenbeobachtungen und einer Untersuchung der Seichtwassertiden gemacht. Diese Arbeit enthält, allerdings
mit Ausnahme der langperiodischen Tiden und der sog. geodätischen Funktionen, den ausführlichsten Aus
zug aus Doodsons Tidenverzeichnis. Die Art und Weise, wie die Entwicklungen von Darwin-Börgen
und D o o d s o n zustande kommen, wird nur kurz gestreift. Den einzigen zusammenhängenden Bericht über
Doodsons Ergebnisse mit einer knappen Zusammenstellung und Erläuterung der astronomischen Grund
lagen, einem ziemlich umfangreichen Tidenverzeichnis, in dem auch die langperiodischen Tiden und die geo
dätischen Funktionen angegeben sind, sowie einer angenäherten Ableitung der wichtigsten Tiden hat Bartels
in einem sehr klar aufgebauten Artikel über „Gezeitenkräfte“ in Gutenbergs „Handbuch der Geophysik“
gegeben. Diese angenäherte Ableitung einzelner Tiden läßt allerdings nicht ohne weiteres erkennen, wie die
vollständige Entwicklung des Potentials zu gewinnen ist. Der Beschränkung auf die Gezeitenkräfte ent
sprechend, die sehr ausführlich behandelt werden, sind ferner einige für die Anwendung auf die Ge
zeiten des Meeres wichtige Fragen nicht behandelt und wird dementsprechend z. B. die Arbeit von
Rauschelbach überhaupt nicht erwähnt. Die Zusammenstellung der astronomischen Grundlagen ent
hält nur das unbedingt Nötige.
Diese Grundlagen haben allgemeinere Bedeutung, da auf ihnen auch die Berechnung der Sonnen- und
Mondephemeriden, die in den verschiedenen Jahrbüchern gegeben werden, beruht. Eine kurze, zusammen
fassende Einführung in dieses Teilgebiet der sog. klassischen Astronomie, die wirklich alles zum Verständnis
von Gezeitenuntersuchungen und -Vorausberechnungen Gebrauchte einschließlich der wichtigsten Zahlenwerte
enthält, scheint es in deutscher Sprache nicht zu geben, während die Ergebnisse der neueren Astrophysik
Gegenstand zahlreicher Berichte sind. Die folgende stark erweiterte Ausarbeitung eines Vortrags beim Marine
observatorium Wilhelmshaven vor Navigationslehrern der Marineschule Mürwik, in der eine solche Einfüh-