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Joachim Blüthgen: Geographie der winterlichen Kaltlufteinbrüche in Europa.
tretens in den einzelnen Teilen Mitteleuropas verschieden. Wir wollen diese Frage im folgenden
Absatz etwas näher untersuchen.
In erster Linie spielen hierbei der KE-Typ sowie das Verhältnis der KE zu den jeweils zu
erwartenden langjährigen Mittelwerten (einschließlich der mittleren Extreme) eine grolle Rolle.
Die im Frühjahr über Nord- bzw. Nordwesteuropa hereinbrechenden Nsk- bzw. NW-KE bringen
für die mitteleuropäische Vegetation größere Gefahren mit sich als andere KE-Typen und als
zu winterlicher Zeit auftretende. Aus den Arbeiten von K. Bender (zuletzt 1939) entnehmen
wir z. B. die Schädigung der in Bodennähe spürbaren verbreiteten, im einzelnen von der
Lokalität abhängigen Spätfröste im Unterelbegebiet, die die Obstkulturen der Vierlande be
trächtlich in Mitleidenschaft ziehen, die aber gegebenenfalls durch rechtzeitige Vorhersage und
Schutzmaßnahmen (Rauchentwicklung!) gemindert werden können. An die Schädigung der be
reits in vollster Entwicklung befindlichen Obstkulturen der klimatisch durchschnittlich begün
stigten Obstbaugebiete im Südwesten des Reiches durch Schneefälle und Nachtfröste im Gefolge
von solchen singulären KE sei nur erinnert.
Wir können uns bei der Kennzeichnung dieser Frostschäden in Südwestdeutschland bereits auf D o v e (1837,
S. 274—275) berufen: „Wenn bei -verrückender Jahreszeit die wärmeerregende Kraft der Sonne steigt, so wird in der
Gegend, welche den milden Winter hatte, der Frühling bereits erwachen, während da, wo die strenge Kälte herrsdite,
die Temperatur sich nicht viel über Null erheben wird, weil alle erregte Wärme in dem Sdimelzen der vorhandenen
Eismassen gebunden wird. Dem Druck der kalten Luft dieser Gegend (also der Polargegenden! D. Verf.) wird (weil
so einseitig vorwaltende Luftströme vorzugsweise nur im Winter herrschen) die erwärmte, daneben befindlidie aus
gedehnte Luft nicht lange Widerstand leisten können. Ihr Eindringen wird desto plötzlicher sein, je unvorsichtiger
die Wärme sidi hier gesteigert hatte. Daher wird der Frühling unangenehm sein durch häufige Abwedrsfungen
warmer und höchst rauher Witterung. Die kalten Ostern des Jahres 1855 sind gewiß noch jedem im Gedächtnis.
Didite Sdineesdiauer gaben am Karfreitage den PJieinuf'ern von Mainz bis Bonn ein winterliches Aussehen, obgleidi
Pfirsich- und Kirsdibäume in voller Blüte standen, fn Berlin stürmte es aus SW, aber ohne Schnee. Überhaupt war
in dieser Zeit die Witterung am Rhein viel ungestümer als in Berlin. Noch ärger war es aber in England, wo diese
Kälte sdion Mittwoch abend eintrat. Nach schönem Frühlingswetter folgte dort plötzlich eine empfindliche Kälte. Es
schneite wie im Dezember; an freien Plätzen fror es sogar bei Tage, daher großer Schaden an Büthen. Die Wagen,
welche am Charfreitage aus dem Norden nach London ankamen, waren ganz mit Schnee bedeckt. Ebenso wurde in
Italien und Frankreich ungewöhnliche Kälte bemerkt. Diese Kälte war also in westlichen Gegenden stärker als in
östlichen, sie kam auch aus Westen." Diese Schilderung bezieht sich also allem Anschein nach auf einen NW-KE be
sonders heftiger Art.
Der Unterschied zwischen dem die Vegetation bereits stark fördernden mittleren klima
tischen Einfluß in W-Deutschland und solchen singulären Ereignissen ist besonders groß. In
Ostdeutschland ist diese Gefährdung der Vegetation nicht in solchem Maße vorhanden,
denn hier ist die Erwärmung zuvor, wie wir bereits erwähnten, noch nicht so allgemein fort
geschritten, die Vegetation daher noch in einem weniger fortgeschrittenen Entwicklungsstadium.
Trotzdem sind auch in Ostdeutschland Spätfröste nachteilig, wie z. B. Kunze (1936) dargelegt
hat. Der Unterschied in der Wahrscheinlichkeit von Kaltlufteinbrüchen ist, im großen gesehen,
innerhalb ganz Deutschlands im April—Mai gering (wenn wir hier NW- und Nsk-KE einmal
gleichsetzen). Eine geAvisse Verspätung der Frühjahrsfröste ist allerdings z. B. in Ost- gegen
über Westpommern festzustellen (Knoch, 1927 [a], S. 8), welche am zwanglosesten durch eine
größere Häufigkeit des Eintreffens nordeuropäischer polarmaritimer Kaltluft im Osten gegen
über dem Westen zu erklären ist. Unterschiedlicher dagegen ist die Zahl der zuvor aufgetre
tenen Tagesmittel über +5° (bzw. Tageshöchstwerte von +10°), mit denen im allgemeinen die
Vegetationszeit einsetzt. Diese liegt im Rheingebiet eben wesentlich höher als im Osten. Ebenso
ist ja auch zu verstehen, worauf ebenfalls Kunze hingewiesen hat, daß clie bei einem ge
gebenen KE im Gebirge auftretenden Minima trotz ihrer gegenüber der Ebene größeren Strenge
auf clie Vegetation dort von geringem Belang sind, Aveil die Vegetation zuvor noch nicht weit
genug hervorgelockt ist. Wie wir schon erwähnten, bedingte ja auch einerseits in Ostmittel
europa clie längere Schneebedeckung und die länger anhaltende Wahrscheinlichkeit kalter Kon
tinentalluft ein Hinauszögern der Vegetationsentwickliing gegenüber dem Westen, wo dann
andererseits die höhere Zahl vorheriger Avärmerer TemperaturAverte als Positivum hinzukommt.
Die einstrahlungsbegünstigte und von kontinentaler Kaltluft weitgehend verschonte Ober
rheinische Tiefebene zeigt naturgemäß ebenso Avie die westdeutschen Täler in dieser