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Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte und des Marineobservatoriums. — 58. Bd. Nr. 10.
des Potentialgradienten und der magnetisierenden Wirkung des Blißes auf Eisenstäbe glauben annehmen zu
müssen. Troß aller dieser möglichen Einschränkungen haben wir es liier auf jeden Fall mit erheblichen
Kräften zu tun.
Wenn wir auch noch die Wirkung der weit ausgedehnteren positiven Ladung im oberen Teil der Wolke
sowie die wahrscheinlich weitaus überwiegende negative Ladung des übrigen Teils der Gewitterwolke in jeweils
mehr oder weniger starker Anhäufung untereinander und in bezug auf ihre influenzladungen berechnen
wollten, so kämen wir zu einer Kräfteverteilung, bei der ein statisches Gleichgewicht der Ladungen einfach
unmöglich ist. Die zwischen den einzelnen Ladungen wirksamen Kräfte müssen sofort zu einer Bewegung,
d. h. zu einem Ausgleich derselben untereinander führen.
Da aber, wie die bisherigen Messungen von Simpson und Scrase gezeigt haben, während eines Gewitters
dauernd eine bestimmte Ladungsanordnung in der Gewitterwolke, sowie ein mittlerer Potentialgradient von
50 bis 100 V/cm unterhalb derselben erhalten bleibt, müssen wir troßdem eine Art von Gleichgewicht an
nehmen, nämlich ein elektrodynamisches Gleichgewicht der Ladungen, oder kurz Ladungsgleichgewicht, wie
wir es weiterhin nennen wollen, das dann vorhanden ist, wenn der Ladungsverlust durch neu erzeugte Elek
trizität gerade gedeckt wird. Je nach der Stärke der Elektrizitätserzeugung in den verschiedenen Gegenden
der Gewitterwolke wird sich eine bestimmte Lage der erzeugten Ladungen zueinander, sowie ein bestimmter
Potentialgradient ergeben, der unter der Wolke selten 100 V/cm übersteigt.
Aus der Tatsache aber, daß zur Erzeugung einer Blißentladung ein Potentialgradient von > 10 KV/cm
notwendig ist, ergibt sich zwangsläufig praktisch die Unmöglichkeit der Entstehung eines Blißes in einem
System, in dem Ladungsgleichgewicht in dem oben definierten Sinne herrscht. Theoretisch besteht natürlich
die Möglichkeit, daß die Elektrizitätserzeugung in allen Teilen der Wolke so stark anwächst, daß sie noch bei
einem Potentialgradienten von > 10 KV/cm Ladungsgleichgewicht ermöglicht. Aus den gemachten Beobachtun
gen läßt sich aber nichts derartiges entnehmen, vielmehr zeigen diese, daß der Potentialgradient von einem
Mittelwert von 50 ~ 100 V/cm plößlich stark ansteigt, was gleichbedeutend ist mit einer schlagartigen Zu
nahme der Elektrizitätserzeugung, oder aktiv werden einer schon vorhandenen Ladung durch Kapazitäts
änderung, an irgendeiner Stelle der Gewitterwolke. In dem Augenblick, wo dieses eintritt, ist aber das
herrschende Ladungsgleichgewicht gestört. Die Wiederherstellung desselben erfolgt den auftretenden Kräften
entsprechend durch Ladungsverschiebung, meist unter Leuchterscheinung, eben als Bliß.
Betrachten wir mit dieser Vorstellung die Verteilung der elektrischen Ladungen in der Gewitterwolke
nach Simpson und Scrase: Die obere positive Ladung sowie die negative Ladung sind im ganzen schichtförmig
angeordnet. Im Verhältnis zur Leitfähigkeit, die in diesen Höhen schon merklich zugenommen hat, befinden
sich zwischen den beiden entgegengeseßten Ladungen mit die höchsten in der ganzen Gewitterwolke ge
messenen Potentialgradienten. Da die Trennung und damit die stärkste Ansammlungn der entgegengeseßten
Ladungen im Mittel meist nicht unter 4 km, oft aber in 6 km oder sogar 10 km Höhe liegt, dürften bei Gleich
gewichtsstörungen Bliße zwischen dem negativen Teil der Wolke und der Erde sehr selten sein. Plößliches
starkes Strömen, vielleicht sogar oft unter Leuchterscheinung, dürfte dagegen sehr häufig zwischen der posi
tiven Ladung des oberen Teils der Wolke und der negativen Ladung eintreten, wie dies die von Simpson und
Scrase gerade hier immer wieder festgestellten Funken an den Elektroden ihrer Höhenelektrographen be
weisen. Somit scheinen sich diese beiden Ladungen als Ganzes genommen dem Erdboden gegenüber ziemlich
stabil zu verhalten.
Ganz anders wird sich die zusammcngeballte Ladung in unteren Schichten der Wolke verhalten, die dem
Erdboden im Durchschnitt schon sehr nahe ist. Diese positive Ladung scheint auf den ersten Blick als Fremd
körper in der Wolke zum Spielball aller hier etwa plößlich auftretenden Kräfte zu werden. Daß sie, wie schon
festgestellt, vom Boden aus gesehen das Aktivitätszentrum des Gewitters darstellt, erscheint jeßt fast als
selbstverständlich.
Wird die Größe dieser Ladung durch eine schlagartige Elektrizitätserzeugung oder Kapazitätsänderung
plößlich geändert, so ist das herrschende Ladungsgleichgewicht gestört. Die positive Ladung muß den dabei
auftretenden Kräften nach Richtung und Größe folgen, d. h. die Umlagerung, bzw. Verschiebung derselben
unter Leuchterscheinung, als Bliß, wird mehr oder weniger rasch erfolgen, und zwar unter irgendeinem
Winkel, entweder in Richtung des Erdbodens oder der Wolke selbst, bis der Ausgleich und damit das La
dungsgleichgewicht wiederhergestellt ist.