Hundertjahrfeier
13
Prof.Dr.H.U.Roll: Die Deutsche Seewarte - historische und wissenschenfliche Aspekte.
Wenn die deutschen Meteorologen und Geophysiker
gemeinsam mit der American Meteorological Society
und der Royal Meteorological Society in Hamburg eine
Tagung aus Anlaß des 100. Jahrestages der Eröffnung
der Norddeutschen Seewarte abhalten, dann ziemt es
sich wohl, daß die besonderen Umstände dieses Jubi
läums hier näher beleuchtet werden.
Eine im wahren Sinne des Wortes ‘'merkwürdige"
Eigenschaft unserer heutigen Veranstaltung ist, daß
wir zwar ein Jubiläum haben, aber keinen Jubilar! Ich
will damit sagen, daß die nautisch-wissenschaftliche
Tätigkeit, die hier in Hamburg vor 100 Jahren begon
nen wurde, in ununterbrochener Polge bis heute am
gleichen Ort ausgeübt worden ist, daß aber das vor
100 Jahren gegründete Institut, eben die erwähnte
"Norddeutsche Seewarte", seit langem nicht mehr exi
stiert, daß auch das Nachfolge-Institut, die berühmte
"Deutsche Seewarte", vergangen ist und daß jetzt zwei
neue Institutionen, das Deutsche Hydrographische In
stitut und das Seewetteramt des Deutschen Wetterdien
stes, die vor 100 Jahren begonnenen Arbeiten im Rah
men anderer Aufgaben weiterführen.
Wenn also hier von einer "Hundertjahrfeier" ge
sprochen wird, dann muß völlig klar sein, daß es sich
dabei nicht um ein Institut handelt, das unter dem
gleichen Namen 100 Jahre lang in Hamburg gearbeitet
hat, sondern um das Jubiläum einer meteorclogisch-
ozeanographisch-geophysikalischen Tätigkeit, die hier
im Interesse der Sicherheit und Ökonomie der Schiff
fahrt vor 100 Jahren begonnen wurde und bis heute aus
geübt wird.
Welcher Art ist nun diese Tätigkeit, die in die
sem Jahre 100 Jahre alt wird? Steht sie wirklich in
so engem Zusammenhang mit den Disziplinen Meteorolo
gie, Ozeanographie und Geophysik, daß dadurch die Ein
berufung dieser Tagung gerechtfertigt wird?
Um diese Frage beantworten zu können, muß ich
mit wenigen Worten erklären, wie es zur Gründung der
Norddeutschen Seewarte im Jahre 1868 kam.
In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
erkannte der amerikanische Seeoffizier MATTHEW FON
TAINE MA.URY, daß es durch systematische Zusammenfas
sung und Auswertung der in den Journalen der Schiffe
niedergelegten Naturbeobachtungen möglich ist, der
Schiffahrt wichtige Hilfen zu geben, insbesondere
Wind- und Strömungskarten zu entwerfen und Segelan
weisungen zu verfassen, um die transozeanischen Rei
sen zu sichern und abzukürzen. Diese 1841 von MAURY
in den Vereinigten Staaten begründete Tätigkeit fand .
bald Nachfolger in Frankreich, Holland und England,
und auch in Deutschland wurde im Jahre 1865 durch
den Erdmagnetiker und Nautiker GEORG NEUMAYER die
Forderung erhoben, ein nautisch-meteorologisch-hydro
graphisches Institut zur Förderung der sich rasch
entwickelnden deutschen Seeschiffahrt einzurichten.
Die starken Spannungen zwischen den deutschen Bundes
staaten ließen jedoch noch keine staatliche Lösung
zu. Da ergriff der Mathematiker und Naturwissenschaft
ler WILHELM VON FREEDEN, derzeit Rektor der Großher-
zoglich-Oldenburgischen Navigationsschule in Els
fleth, die Initiative, überzeugte die Handelskammern
in Bremen und Hamburg von der Notwendigkeit einer Ak
tion und erbot sich, zunächst versuchsweise ein nau
tisch-meteorologisches Institut in Hamburg mit finan
zieller Unterstützung der beiden genannten Handels
kammern einzurichten und zu betreiben. So kam es am
1. Januar 1868 zur Eröffnung der "Norddeutschen See
warte" Abt. für Seefahrt unter der Leitung von WIL
HELM VON FREEDEN. 28 deutsche Reedereien erklärten
sich bereit, das Unternehmen durch kostenlose Liefe
rung von Beobachtungen und Messungen zu unterstützen.
Das Bemerkenswerte an diesem Vorgang ist die
Tatsache, daß es sich nicht um eine Gründung durch
staatliche Aktion auf gesetzlicher Grundlage handel
te, sondern um die rein private Initiative eines
qualifizierten Staatsbürgers, unterstützt durch kauf
männische Gremien und Reedereien, die natürlich den
wirtschaftlichen Nutzen einer solchen Investition
im Auge haben mußten.
Die Norddeutsche Seewarte stellte sich die Auf
gabe, zur Sicherung und Abkürzung der ozeanischen
Seewege beizutragen, und zwar durch die Auswertung
von zahlreichen Beobachtungen deutscher Schiffsoffi
ziere über
ozeanische Strömungen und Winde,
Gezeiten,
Mißweisung des Kompasses und
meteorologische Erscheinungen.
Auch die Verbesserung der nautischen Instrumen
te an Bord sowie ihre Prüfung durch Vergleich mit
Normalinstrumenten wurde in den Aufgabenbereich des
Instituts einbezogen-. Das Ergebnis dieser Auswertun
gen waren die bekannten Segelanweisungen, die sich
als außerordentlich nützlich erwiesen haben. In den
7 Jahren ihres Bestehens hat die "Norddeutsche See-
warte" (die 1872 den Namen "Deutsche Seewarte" an
nahm) 850 individuelle Segelanweisungen ausgegeben,
deren Nachprüfung ergab, daß ein Gewinn von im Mittel
6 Tagen pro Reise durch die Beratung erzielt worden
ist. Damit hat dieses kleine, praktisch als Einmann-
Betrieb gestartete -und später auch nur mit wenigen
Assistenten ausgestattete Institut einen erheblichen
volkswirtschaftlichen Nutzen erbracht.
Diese historische Rückblende hat uns - so glaube
ich - in die Lage versetzt, der geistigen Verbindung
zwischen den Gedanken und Absichten, die bei der
Gründung der Seewarte Pate gestanden haben und den
Themen unserer heute beginnenden Tagung nachzuspüren.
Die Norddeutsche Seewarte und - in noch stärkerem
Maße - die 1875 als Reichsinstitut gegründete und
durch ihr Wirken in aller Welt bekannte Deutsche See
warte waren bemüht, die Sicherheit und Ökonomie der
Seeschiffahrt durch Anwendung naturwissenschaftlicher
Kenntnisse zu erhöhen.
Eine solche Tätigkeit setzt streng genommen