15
modellieren können als die hydrodynamischen und statistischen Modelle explizit. Oder anders
formuliert wird gefragt, ob es möglich sei, die Natur mit Hilfe neuronaler Netze ohne
explizite Kenntnis ihrer nichtlinearen komplexen Zusammenhänge besser vorherzusagen als
mit dieser Kenntnis. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, diese Frage für die Anwen
dung der Netze auf die Wasserstandsvorhersage zu beantworten.
2.1.7. Fernwellen
Es können an der Nordseeküste unvermittelt Wasserstandsschwankungen auftreten, die als
Windstau, d.h. aus dem lokalen Windfeld nicht zu erklären sind. Am frühesten sind solche
Erscheinungen unter der Bezeichnung "Seebär" im Ostseeraum bekannt geworden, weil sie
dort infolge des geringen Einflusses der Gezeiten besonderes augenfällig sind. Der Begriff
Seebär ist eine Verballhornung des niederdeutschen Wortes boeren = heben [Dietrich et al.
75]. Später wurden durch Untersuchungen u.a. von Gaye et al. Seebären an der deutschen
Nordseeküste nachgewiesen und mit Luftdruckstörungen in Zusammenhang gebracht [Gaye
et al. 34], [Tomczak 58]. Seebären sind als fortschreitende Wellen aufzufassen, die durch
ostwärts ziehende Tiefdruckgebiete (Zyklonen) hauptsächlich im Atlantik und zu einem
geringeren Teil auch in der Nordsee erzeugt werden. Wie bei den Zyklonen handelt es sich
bei den Fernwellen um nichtperiodische Einzelereignisse ("Solitärwellen"). Ihre Amplitude
ist um so größer je schneller sich der Luftdruck ändert. Fernwellen müssen prinzipiell von
der Dünung unterschieden werden. Dünungswellen gehören zum windinduzierten Seegang,
die weite Seeräume durchlaufen können [Dietrich et al. 75]. Außerdem unterscheiden sie sich
von Fernwellen durch ihre Periode.
Im Wasserstandsvorhersagedienst des BSH wurden mit Hilfe des Gesamtansatzes Tabellen
des Windstaus in Abhängigkeit von Windrichtung und -geschwindigkeit für verschiedene
Orte (u.a. Cuxhaven) erstellt, unter der Annahme, daß der Zusammenhang zwischen Wind
und Stau nun genau genug bekannt sei. Um eine Abschätzung für die Fernwellen zu bekom
men, die im Gesamtansatz nicht berücksichtigt sind, wurde mit Hilfe der Tabellen der
windbedingte Anteil vom Stau abgezogen. Das Ergebnis der Subtraktion, der Reststau, wurde
dem Stau an verschiedenen Pegeln der britischen Nordseeküste gegenübergestellt. Dabei
wurde eine relativ große Übereinstimmung des Verlaufs des Reststaus bei Cuxhaven mit dem
15 h früheren Stau von Aberdeen bemerkt, sogar dann, wenn dort kein Wind herrschte
[Annutsch 77]. Es scheint so, daß Fernwellen bei Schottland in die Nordsee eindringen,
entlang der britischen Nordseeküste südwärts und der holländischen Küste ostwärts wandern,
bis sie ungefähr 15 h nach dem Eindringen in die Nordsee die deutsche Küste erreichen
(Abb.2.6). Eine Simulation der Fernwellen in der Nordsee erbrachte ähnliche Wanderungs
zeiten wie beobachtet wurde [Annutsch 60 unveröff.]. Die Ähnlichkeit der Bewegungs
richtung der Fernwellen mit der der Gezeitenwellen (Abb.2.3) ist unverkennbar. Die Wellen
sind sich auch in ihrer Größe ähnlich. Allerdings ist die Hypothese, daß die Wellen an die
Küste gebunden sind, nicht gesichert. Sie könnten auch quer über die Nordsee laufen.
In neueren Arbeiten, die nicht am BSH durchgeführt wurden, wird der Zusammenhang
zwischen Meeresoberflächenauslenkung und Luftdruckschwankung auf der Basis von
hydrodynamisch-numerischen Verfahren untersucht. Sie basieren u.a. auf der invertierten
Barometer- bzw. isostatischen Approximation. Sie stellt eine direkte Proportionalität zwischen
der Auslenkung und einer lokalen Abweichung vom geographisch gemittelten Luftdruck her.
Die Auslenkung wird für die meisten zeitlichen und räumlichen Skalen mit Hilfe der iso
statischen Approximation ausreichend genau beschrieben [Ponte et al. 91]. Ponte weist aber
darauf hin, daß, obwohl der Druck der Atmosphäre an der Meeresoberfläche bereits voll