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Wolff Heintschel von Heinegg
Wiewohl man geneigt sein könnte, unter Verweis auf die Souveränität des Kü
stenstaates den Schutz seiner nach Maßgabe des SRÜ bestimmten Küstengewäs
ser als selbstverständlich anzusehen, so ist diese weitreichende Berücksichtigung
des internationalen öffentlichen Seerechts doch bemerkenswert. Die Mehrzahl der
Küstenstaaten wird nämlich kaum über geeignete Mittel verfügen, ihre auf 12sm
ausgedehnten Küstenmeergebiete und noch größeren Archipelgewässer entspre
chend den Neutralitätspflichten effektiv zu kontrollieren und Beeinträchtigungen
ihres neutralen Status durch die Konfliktparteien abzuwehren. 67 Es ist daher zu
befürchten, daß etwa eine Konfliktpartei sowohl den Gegner als auch den nicht
am Konflikt beteiligten Küstenstaat auf die Probe zu stellen und die neutralen
Küstengewässer als Zufluchtsort mißbrauchen wird. 68 Ein Ausweg aus dieser
Konfliktsituation könnte darin bestehen, während eines internationalen bewaffne
ten Konflikts zur See weniger weitreichende Ansprüche zu erheben. 69
Ungeachtet der aus der Anerkennung des 12-sm-Küstenmeeres und der Archipel
gewässer resultierenden praktischen Umsetzungsprobleme gilt es, kurz auf die
Durchfahrts- und Überflugrechte von Schiffen und Luftfahrzeugen der Konflikt
parteien in bzw. über neutralen Küstengewässern einzugehen.
1. Küstenmeer
Im Küstenmeer eines nicht am Konflikt beteiligten Staates genießen die Schiffe
der Konfliktparteien grundsätzlich das Recht auf friedliche/bloße Durchfahrt, so
weit sie die nationalen Rechtsvorschriften beachten. 70 Allerdings ist der Küsten
staat in Abweichung der Bestimmungen des SRÜ berechtigt, unter Beachtung des
Grundsatzes der Unparteilichkeit zumindest den Kriegsschiffen und Prisen der
Zeiten kann nichts anderes gelten, zumal sich das Konzept der sog. Neutralitätszonen nicht
durchzusetzen vermochte.
67 So auch S.A. Swarztrauber, The Three-Mile Limit of Territorial Sea, 1972, S. 240; H.B. Ro
bertson Jr., The „New“ Law of the Sea (Fn. 22), S. 17 f.
68 So H.B. Robertson Jr., ebd. Vgl. ferner B.A. Harlow, The Law of Nautrality at Sea for the 80’s
and Beyond, UCLA Pacific Basin L.J. 3 (1984), 42-54, 49, der aus der Sicht des Praktikers
bemerkt: „(...] the areas in question [...] do not seem especially strategic. Accordingly, most
naval planners would not deem neutral status of an expanded ordinary territorial sea of 12
miles an unacceptable burden.“
69 So beanspruchten zu Beginn des II. Weltkriegs Norwegen, Schweden und Estland ein Kü
stenmeer von 4 sm Breite. Deutschland und das Vereinigte Königreich erkannten diese An
sprüche - mit Ausnahme derer Schwedens - indes nicht an. Daher beschränkten sich Norwe
gen und Estland auf die übliche Küstenmeer breite von 3 sm.
70 Art. 10 des XIII. Haager Abkommens von 1907; NWP 9, para. 7.3.4.2; Canadian Draft Manual,
para. 1511 Abs. 1; Zdv 15/2, Nr. 1126. Ferner C.J. Colombos (Fn. 9), § 725; Oppen
heim/Lauterpacht (Fn. 61), S. 692 f.; R.W. Tucker (Fn. 62), S. 232; A.V. Lowe, The Laws of War
at Sea and the 1958 and 1982 Conventions, Marine Policy 12 (1988), 286-296, 296.