Heidke, P.: Neumayer als Deutscher und Gelehrter.
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„Reiherstieg“, Kapitän Sparbohm, zur weiteren praktischen Ausbildung im
März 1852 seine zweite Seereise an, die ihn nach einer langen Fahrt (135 Tage)
nach Port Jackson, dem Hafen von Sydney in Australien, führte. Mit Ausnahme
der Offiziere und des Matrosen Neumayer desertierte hier die gesamte Schiffs-
mannschaft, um ihr Glück in den damals neu entdeckten Goldfeldern von Victoria
zu suchen, Der monatelange unfreiwillige Aufenthalt daselbst bot Neumayer zum
erstenmal Gelegenheit, in Australien erdmagnetische Beobachtungen anzustellen,
Hier reifte in ihm die Überzeugung, daß zur Gewinnung besserer Erkenntnis
über den Verlauf der erdmagnetischen Elemente die Anstellung regelmäßiger
erdmagnetischer Beobachtungen in Australien erforderlich sei, Diese Messungen
erschienen ihm deshalb besonders notwendig, weil das von Sir James Ross 1841
in City of Hobart, der Hauptstadt Tasmaniens, begründete Observatorium nach
neunjähriger Dauer die regelmäßigen Beobachtungen wieder hatte aufgeben
müssen, Sein nächstes Lebensziel war ihm damit gewiesen. In Melbourne ver-
ließ Neumayer nach vorschriftsmäßiger Abmusterung die „Reiherstieg“.
Seinen weiteren Aufenthalt in Australien benutzte Neumayer zunächst zu
ginem achtwöchigen Besuch seiner Kameraden von der „Reiherstieg“ in den Gold-
feldern der Bendigo-Diggins in Südaustralien, namentlich um die dortigen geo-
logischen Verhältnisse näher kennenzulernen. Bald drängte sich ihm die Über-
zeugung auf, daß mit den einfachen, von den Seeleuten benutzten Werkzeugen
au£ längere Zeit keine lohnende Ausbeutung des dortigen Goldvorkommens
möglich sei, Für seine Pflicht hielt er es daher, durch Navigationsunterricht
in den Abendstunden seinen alten Kameraden die Rückkehr in ihren ursprüng-
lichen Beruf zu erleichtern, Eine Freude war es ihm, wie aufmerksam sie trotz
der vorhergegangenen starken Körperanstrengungen seinem Unterricht folgten,
Mit köstlichem Humor hat er später diesen abenteuerlichen Lebensabschnitt in
dem Sammelwerk „Auf weiter Fahrt“ (Berlin, Wilhelm Weicker) geschildert.
Noch auf der Abschiedsfeier, die am 21. März 1903 in Wiezels Hotel die Beamten
der Seewarte in gemütlicher Weise mit ihrem langjährigen verehrten Direktor
vereinte, gedachte er in seiner Abschiedsrede dieses Lebensabschnittes. In
launiger Weise erzählte er, wie er für das geistige Wohl seiner Kameraden als
Lehrer, für ihr leibliches als Koch tätig gewesen war, und daß die von ihm ge«
botene leibliche Nahrung mindestens den gleichen, wenn nicht einen größeren
Beifall gefunden habe als die geistige,
Am 28, August 1853 {rat Neumayer seinen Rückmarsch nach dem
100 englische Meilen entfernten Melbourne an, von wo er noch eine achtwöchige
wissenschaftliche Reise nach dem Murray-FluBß unternahm, Reich an Erfahrungen
über Land und Leute kehrte er zurück und besuchte schließlich noch das ehe-
malige Observatorium von Ross auf Tasmanien, Bald fand er in den ersten
deutschen und englischen Gesellschaftskreisen von Melbourne Eingang und Sym-
pathien für sein nächstes Lebensziel, die Gründung eines nautischen und
erdmagnetischen OÖbservatoriums in Melbourne, Zunächst aber sollte es
noch nicht zur Durchführung dieses Planes kommen,
Ende 1853 finden wir Neumayer als zweiten Steuermann an Bord des be-
rühmten amerikanischen Klipperschiffs „The Sovereign of the Seas“, auf dem er
anfangs als Steuermann, zum Schluß als Fahrgast nach einer sehr schnellen
Reise von nur 80 Tagen bis London im Frühjahr 1854 nach Hamburg zurückkehrte,
Hiermit waren Neumayers Lehrjahre beendet, wenn auch nicht seine Wander-
jahre, Jetzt trat er mit eigenen Plänen hervor, bei deren Durchführung er in
einem Maße erfolgreich war, wie es nur wenigen Menschen vergönnt ist. Den
Eindruck, den er bei seinem ersten öffentlichen Auftreten in Europa machte,
schilderte am besten einer seiner ältesten Freunde gelegentlich einer Gedächtnis-
rede kurz nach Neumayers Tode mit den Worten:
„Der junge Neumayer war damals eine ganz eigenartige Erscheinung unter den Gelehrten
Deutschlands; sowohl seine vielseitige Begabung wie seine außergewöhnliche Vorbildung als auch
seine anziehende Persönlichkeit und seine überzeugende Beredsamkeit konnten nicht verfehlen, bei
jedem, zu dem er in Beziehungen trat, den Eindruck hervorzurufen, daß man es mit einem bervor-
ragend tatkräftigen und zielbewußten Gelehrten zu tun habe; infolgedessen schritt er trotz seiner schwer
zu verwirklichenden Pläne von Erfolg zu Erfolg.“