Heidke, P,: Neumayer als Deutscher und Gelehrter,
Etwa gleichzeitig wie mit den Schriften Lists beschäftigte sich Neumayer mit
den grundlegenden Arbeiten des amerikanischen Hydrographen Matthew Fontaine
Maury über die Wind- und Meeresströmungen, Bald erkannte er ihre hervor-
ragende Bedeutung für die praktische Seefahrt. Zunächst waren, um die Wind-
und Meeresströmungen kennenzulernen, die Kapitäne und Schiffsoffiziere in der
Anstellung dahingehender Beobachtungen zu unterweisen, alsdann deren Beobach-
tungen zu bearbeiten; schließlich gestützt auf diese Bearbeitungen die vorteil-
haftesten Seewege zu ermitteln, Spätere Erfahrung hat gezeigt, daß manche See-
reisen namentlich vom Kanal nach Australien und zurück durch Ausnutzung der
so gewonnenen meteorologischen und hydrographischen Kenntnisse zeitlich um
etwa ein Drittel verkürzt werden konnten.
Neumayers Studienzeit fiel in die Sturm- und Drangperiode der vierziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts. Begreiflich, daß der für ein großes und macht-
volles Deutschland begeisterte Jüngling eifrigsten Anteil an allen Tagesereignissen
nahm; hinzu kamen freundschaftliche Beziehungen zu verschiedenen Führern der
süddeutschen Volksbewegung. Mit zahlreichen Kommilitonen war Neumayer an
den Kundgebungen gegen Lola Montez beteiligt. Sehr groß war daher die Ge-
fahr, daß er zu weit in die politische Bewegung verstrickt wurde. Vor dem
Schicksal eines politischen Märtyrers hat ihn glücklicherweise sein sehr besonnener
Vater bewahrt, der ihn rechzeitig zwangsweise nach Tirol in die Krimmler Tauern
schickte, Bei aller Anhänglichkeit an das angestammte Herrscherhaus seines
Landes und seiner Verehrung für dasselbe hatte Neumayer doch für die wegen
politischer Gründe aus dem Vaterland entwichenen Achtundvierziger stets eine
offene Hand, immer fanden sie eine liebenswürdige Aufnahme bei ihm. Als für
ihn sehr charakteristisch möge daher die nachstehende Begebenheit auch hier er-
wähnt werden. Während seines Aufenthaltes in Melbourne anfangs der sech-
ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ging Neumayer an einem Steinklopfer
vorbei, der in deutscher Sprache halblaut seine Unzufriedenheit mit seinem
Schicksal kundgab. Seine wenig anstellige Art und seine feine schmale Hand,
die in schroffem Gegensatz zu seiner jetzigen Beschäftigung stand, veranlaßten
Neumayer zu der Frage: „Nun, Sie scheinen auch noch nicht lange Steine ge-
klopft zu haben.“ „Nein,“ lautete die grimmige Antwort, „früher habe ich den
Buben die Hosenböden geklopft.“ Das weitere Gespräch ergab, daß der Arbeiter
ein früherer akademischer Lehrer aus Süddeutschland war, der 1848 aus poli-
tischen Gründen seine Heimat verlassen mußte. Neumayer verschaffte ihm eine
geeignete Beschäftigung am Flagstaff-Observatory, das er damals leitete. Nach
erfolgter Begnadigung sorgte er für seine Rückkehr nach Deutschland. Viele
Jahre später bat der zum Professor und Studiendirektor aufgerückte Sohn dieses
Lehrers Neumayer, er möge seinen todkranken Vater doch aufsuchen. Bei Neu-
mayers Eintritt ins Zimmer richtete der alte Achtundvierziger sich mühsam
im Bett auf und begrüßte ihn mit den charakteristischen Worten: „Ich wußte
doch, daß der Bürger Neumayer noch einmal zu mir kommen würde, ehe ich
sterbe.“
Doch zurück zum jungen Neumayer. Eins haben die stürmischen Revolutions-
zeiten in ihm für immer zurückgelassen, das war neben innigster Liebe zu seiner
schönen Heimat, in welcher er in späteren Jahren im Kreise seiner Verwandten
last regelmäßig seinen Urlaub verlebte, glühende Begeisterung für sein großes
deutsches Vaterland und die feste Zuversicht, daß die seit Generationen ersehnte
Einigung aller deutschen Stämme, das ersehnte deutsche Kaiserreich, nahe bevor-
stehe. Als sein Lebensziel hatte er sich daher gestellt, durch wissenschaftliche
Arbeit an der Hebung der internationalen Meeresforschung mitzuwirken; den
Weg hierzu wiesen ihm die Gedanken von List und Maury.
„Der Deutsche muß sich ein Recht erwerben, in den Reihen der seefahrenden Nationen erscheinen
zu können, und das Recht kann nur erworben werden durch Verdienst um die Ausbreitung nautischer
Kenntnisse. Wir sehen Portugiesen und Spanier, Holländer und Engländer, Franzosen und Russen
und in neuerer Zeit Amerikaner sich ihre maritime Bedeutung anbahnen und erringen durch Leistungen
auf dem Gebiete der Hydrographie und Geographie. Durch Erweiterung nautischer Kenntnisse, durch
Entdeckungsreisen wurden zunächst größere Erfolge möglich gemacht, und zum nauderen der maritime
Geist in der Nation geweckt und gefördert.“