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Meeresphysik
3.4
Wasserstand
S. Müller-Navarra
3.4.1
Einführung
Als Wasserstand des Meeres wird die vertikale Lage der Grenzfläche zwischen Meer und
Atmosphäre - relativ zu einem geodätischen Festpunkt an Land - bezeichnet. Relative
Wasserstandsschwankungen ergeben sich u. a. durch die Gezeiten, atmosphärische Ein
flüsse, Änderungen im Wasserhaushalt, Klimaänderungen sowie Änderungen der ozeanischen
Zirkulation. Hinzu treten noch isostatische Höhenänderungen der Erdkruste und Setzungen
des Pegeluntergrundes. Vorgetäuschte Wasserstandsschwankungen können aus nicht er
kannten systematischen Fehlern der Messeinrichtung oder fehlerhaften nachträglichen „Kor
rekturen“ herrühren. Der Wasserstand wird an der deutschen Nordseeküste schon seit mehr
als einhundert Jahren sehr sorgfältig aufgezeichnet und ausgewertet. Besonders lang ist die
Zeitreihe stündlicher Messwerte am Pegel Cuxhaven (WAHL et al. 2010). Wasserstände an
diesem Pegel wurden schon Mitte des 19. Jahrhunderts für Sturmflutwarnungen in Hamburg
herangezogen (MÜLLER-NAVARRA 2009a).
3.4.2 Schwankungen des Meeresspiegels
Die Schwankungen des Meeresspiegels können aus oben genannten Gründen von Ort zu
Ort recht verschieden ausfallen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich deshalb auf
Schwankungen des relativen Meeresspiegel (RSL) an der deutschen Nordseeküste. Aus lan
gen Zeitreihen deutscher Pegel lässt sich u. a. folgendes ableiten:
- Änderung der Gezeiten (Amplituden, Phasen, Steig- und Falldauern, mittlere Hoch- und
Niedrigwasser, etc.),
- der lokale relative Meeresspiegelanstieg und
- Statistiken zum Windstau (Differenz von eingetretenen Hoch-/Niedrigwasserhöhen und
denen der vorausberechneten Gezeiten).
3.4.3 Gezeiten
Der Wasserspiegel der Nordsee ist an jedem Ort immer bestrebt, sich senkrecht zum örtlichen
Vektor des Schwerefeldes einzustellen. Dieser Vektor unterliegt sehr kleinen Störungen, die
durch Mond und Sonne verursacht werden und Gezeitenbeschleunigungen genannt werden.
Nur in großen, kilometertiefen Ozeanen können die Gezeitenbeschleunigungen Wasserstands
schwankungen von wenigen Dezimetern hervorrufen. Diese im offenen Ozean erzeugten
langen Gezeitenwellen dringen in die Nordsee ein und werden dort durch Erdrotation, Boden
topographie und Küstenverlauf modifiziert. Der Gezeitenhub an der deutschen Nordseeküste
erreicht bis zu 4 m gegenüber 2,7 m bei Aberdeen.
Der direkte Einfluss der örtlichen Gezeitenbeschleunigungen auf die Wassermassen der Nord
see ist sehr klein und beträgt lediglich wenige Millimeter bis Zentimeter (MÜLLER-NAVARRA
2002). Es handelt sich hier also hauptsächlich um Mitschwingungsgezeiten. Der Einfluss vom
Mond ist deutlich größer als der von der Sonne, weswegen die Gezeiten der Nordsee im Mittel
eine Periode von etwas mehr als einen halben Tag (12,42 h) haben und als halbtägige Gezei
ten bezeichnet werden. Langfristige Änderungen der Gezeiten, sei es aus astronomischen
Gründen oder weil sich die Küstengestalt und die Tiefenverteilung der Gezeitengewässer ge
ändert hat, fließen verfahrensbedingt Jahr für Jahr in die vorausberechneten Werte in den
deutschen Gezeitentafeln ein (Anonymus 2010; MÜLLER-NAVARRA 2013a). So hat sich der