Ann. d. Hydr. usw., LXII Jahrg. (1934), Heft I.
Die Gezeitenwelle des Atlantischen Ozeans.
A. Defants Bearbeitung der „Meteor“- Beobachtungen !).
Von H. Thorade, Hamburg.
(Hierzu Tafel 1.)
1. Stand der Frage, Vor nunmehr ziemlich genau hundert Jahren, als
W, Whewell durch den Entwurf von Flutstundenlinien die Kenntnis der Gezeiten
und das Interesse für sie mächtig förderte*), sprach er die Meinung aus, die
Gezeitenwelle des Atlantischen Ozeans entstehe nicht in ihm selbst, sondern
dringe von Südosten her in ihn ein; wir würden bei uns dann nur die Aus-
wirkungen einer Welle beobachten, die bereits vor Tagen im Stillen Ozean oder
in dem die Erde ringförmig umgebenden Südmeere gebildet wurde. Und noch
neuerdings hat der Commander Warburg®) mit Nachdruck betont, eine Flut-
welle, wie die Theorie sie fordere, könne die Erde nur dort umkreisen, wo sie
ganz von Wasser umgeben sei, und nur dorther könne der Atlantische Ozean
seine Gezeiten empfangen; anderswo würde die Flutwelle gar nicht zur Entwick-
lung kommen, Aber schon Airy*%) bekämpfte vom Standpunkte der Wellen-
theorie aus die Ansicht Whewells, indem er ausführte, der Atlantische Ozean
sei groß genug, um eigene Gezeiten zu entwickeln, und Whewell selbst pflichtete
später dieser Auffassung bei®): es sei vielleicht richtiger, die atlantischen Gezeiten
als eine stehende Schwingung anzusehen mit einer von Brasilien nach Guinea
verlaufenden Knotenlinie, Ja, Ferrel® behauptete, die Flutwelle würde sich
nicht ändern, wenn Südafrika und Südamerika durch einen Damm verbunden
wären, und R, Harris’) erblickte in dem Wandern der Hochwasserzeiten längs
der afrikanischen Küste nur den Ausfluß einer Interferenz zweier im Atlantischen
Ozean erzeugter stehender Wellen. G. H. Darwin®) nahm eine vermittelnde
Haltung ein, doch sei die von Süden her kommende Flutwelle z, B, für die euro-
päischen Küsten von größerer Bedeutung als die im Atlantischen Ozean selbst
entstandene. Diese kleine Aufzählung mag zeigen, daß die Frage ohne Ent-
scheidung unserem Zeitalter überkommen ist.
Inzwischen hat sich die Überzeugung verbreitet, daß die Frage, ob fort-
schreitende oder stehende Wellen, nicht von grundsätzlicher Bedeutung ist, da
sich jede fortschreitende Welle als Ergebnis einer Interferenz stehender Wellen
ansehen läßt, und umgekehrt; und KR. Sterneck hat durch seine Zerlegungs-
methode dargelegt, daß man praktisch besser tut, von stehenden Wellen aus-
zugehen, Die Frage muß deshalb jetzt lauten: Sind die atlantischen Gezeiten
selbständig, oder sind sie Mitschwingungsgezeiten? Aber auch diese
Frage ist zunächt in den Hintergrund getreten: In der Folgezeit spielte sich die
Erörterung hauptsächlich in der Form einer Auseinandersetzung zwischen
R. Sterneck und A. Defant in dieser Zeitschrift ab%, wobei es sich darum
handelte, ob man, wie Defant wollte, für eine erste grundsätzliche Entscheidung
den Atlantischen Ozean als einen „schmalen“ Kanal behandeln dürfe; Sterneck
bestritt dies, mindestens für eine Teilschwingung, besonders im nördlichen Teile;
damit aber würde zugleich die Grundlage für eine Berechnung des Verhältnisses
der selbständigen zur Mitschwingungsgezeit entfallen.
Bei diesein Stande der Aufgabe wird man eine weitere Klärung wohl nur
erwarten dürfen von neuen Beobachtungen aus dem Bereiche des freien Welt-
Mach
‘) Defant, A.: Die Gezeiten und inneren Gezeitenwellen des Atlantischen Ozeans, Wissensch,
Ergebn. d. Deutschen Atlant, Exped. a. d. Forsch.- und Vermessungsschiff „Meteor“ 1925—1927, VII,
1. Wl., Berlin u. Leipzig 1932, 318 S. m. 208 Abb. i. Text. — %) Whewell, W.: Essay towards % first
Approximation to & map of cotidal lines. — Phil. Trans, R. S. London, CXXIM, 1833, S. 147—236. —
7 Warburg, H. D.: Tides and Tidal Streams. — Cambridye 1922, 8. 12. — 4) Airy, G. B.: Tides
and waves, Eneyclopaedia metropolitana, V, London 1842, Art, 579. — 5 Whewell, W.: Researches
an the tides — Phil. Trans, R. S., CXXXVINMN, 1848, S, 1—29. — % Ferrei, W.: Tidal researches. —
U. S, Coast and Geod. Survey Rep. 1874, Washington 1874, S, 239, — 7) Harris, R.: Manual of
:ides, IVB, — U, 8, Coast and Geod. Survey Rep,, Washington 1904, S. 368, — % Darwin, Sir G. H.:
Ebbe und Flut, Übers, v, A, Pockels, Leipzig u. Berlin, 1911, 8. 182. — % 1922, S.. 145—149; 1924,
S. 153—166, 177—184; 1926, 8. 1--13, 133, 285—286; 1928, S, 274—280,
Ans. d, Hydr, usw. 1934, Heft I.