Thorade, H.: Vereinfachung der Strömungslehre durch L, Prandtl.
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Vereinfachung der Strömungslehre durch L. Prandtl).
Von H. Thorade, Hamburg.
(Hierzu Tafel 31.}
Die Dinge liegen in der Strömungslehre so, daß die von Euler begründete
Hydrodynamik den wichtigsten Flüssigkeitsbewegungen in der Natur nicht ge-
recht wird, auch nicht, nachdem Navier und Stokes sie durch Berücksichtigung
der Reibung verbessert haben, sondern daß die Praxis sich genötigt sah, für
ihre Bedürfnisse Rechenvorschriften auf Grund von Versuchen aufzustellen,
Solche Formeln pflegen meistens aber nur eine beschränkte Anzahl von Fällen
zu umfassen und entbehren oft des Zusammenhangs untereinander, da eine ein-
heitliche theoretische Grundlage fehlt. Eine wichtige, man könnte sagen, die
Hauptaufgabe der Turbulenzforschung besteht deshalb darin, das einigende Band
zu finden, das die zahlreichen, zum Teil wesensverschiedenen Formeln mitein-
ander verknüpft.
Nachdem man (z. B. Boussinesq) versucht hatte, die unregelmäßigen
Wirbel, die die wirkliche Bewegung des Wassers oder der Luft als turbulent
kennzeichnen, im Sinne einer verstärkten Reibung aufzufassen, tat zuerst
D. Reynolds einen Schritt vorwärts, indem er nachwies, daß es kritische Werte
von Geschwindigkeit, Ausmaß der strömenden Flüssigkeit und Zähigkeit gibt,
unterhalb deren die Strömung in glatten Stromfäden verläuft (laminare oder
schlichte Bewegung), während beim Überschreiten der kritischen Werte eine
Störung genügt, um sie turbulent zu machen (Flechtströmung). Bei einem zylin-
Adrischen Rohre von kreisförmigem Querschnitt (Durchmesser D, mittlere Ge-
schwindigkeit ü, kinematische Zähigkeit v, d.i. Reibungskoeffizient: Dichte) —
und nur auf solche soll sich das Folgende beziehen —, ist der kritische Zustand
erreicht, wenn die nach ihm benannte Reynoldssche Zahl
ü-D
Re = ——
gleich 1160 wird. Dies ist um so eher der Fall, je kleiner v ist, und eine Flüssig-
keit neigt daher um so mehr zur Turbulenz, je geringer ihre innere Reibung
ist; oder: Reibung beeinträchtigt die Turbulenz. Damit erhebt sich die Frage,
wie denn in einer wenig oder gar nicht reibenden Flüssigkeit Wirbel entstehen
können. Die Antwort gab vor einem Menschenalter Prandt}, indem er zeigte,
daß die Flüssigkeit zunächst an der Rohrwand haftet, und daß dann die Ge-
schwindigkeit in einer dünnen „Grenzschicht“ (neuerdings „Gleitschicht“) schnell
auf größere Werte im Rohrinnern ansteigt. An der Wand entstehen, ganz im Sinne
der klassischen Hydrodynamik, Wirbel, die sich loslösen und durch ihr Ein-
dringen in die Hauptströmung diese turbulent machen; bei kleinen Reynoldsschen
Zahlen würde dagegen die Zähigkeit ausreichen, um diesen Vorgang zu unter-
drücken. Weshalb das gerade bei Re= 1160 geschieht, das gehört zu den
Rätseln, von denen die Entstehung der Turbulenz heute noch umgeben ist, doch
scheint die Theorie auf dem Wege zu einer Erklärung zu sein?).
Die aus der Grenzschicht heraus sich entwickelnden und den Strom
kreuzenden Flüssigkeitsballen übertragen Bewegungsgröße von Schicht zu Schicht
(„Austausch“ nach W. Schmidt, s. diese Zeitschr. 1917, S. 367ff.). In An-
jehnung an die Theorie der molekularen Reibung stellte daher Prandtl den
Begriff des „Mischungsweges“ auf, der als durchschnittliche Wegstrecke eines
Wirbelballens der freien Weglänge der Molekeln entspricht. Aber während diese
nur von der Temperatur abhängt und sonst konstant ist, wird der Mischungs-
weg vom Strömungszustande selbst mitbedingt und ist deshalb von Ort zu Ort
verschieden; an der Wand selbst Null, wächst er nach der Rohrmitte ungleich-
mäßig an, s. die Darstellung Taf. 31, Nr. 1, die auߣ Versuche mit glatten und
Aurch Aufkleben von Sandkörnern rauh gemachten Rohren zurückgeht. Der
Mischungsweg ist mit Il, der Halbmesser des Rohres mit r, der Abstand von der
1) Prandti, L.: „Neuere Ergebnisse der Turbulenzforschung“, Zschr. d. Vereins Deutscher Ingenieure
LXXVIIT, 1933, 8. 105—114. — ?) Tollmien, W.: Über die Entstehung der Turbulenz, — Nachr.
Ges, Wiss. Göttingen, Math.-Phys. Klasse; 1929, S. 21—44.