Annalen der Hydrographie und Maritimen Meteorologie, März 1895.
An der Ostküste Englands ist die Zahl der Schiffsunfälle keine ganz so
grofse wie an der Westküste, doch zählen dieselben nichtsdestoweniger auch dort
nach Dutzenden, Die viermastige eiserne Bark „County of Kinrofs“, welche am
Donnerstag im Tau eines Schleppers von Boston nach West-Hartlepool abgegangen
war, mußte, weil der Ballast übergeschossen und das Schiff platt auf die Seite
gefallen war, von dem Dampfer losgeworfen werden; auf die Nothsignale der
Mannschaft kam der von Leith nach London bestimmte Dampfer „Meteor“ herbei,
dessen Kapitän es ablehnte, die „County of Kinrofs“ zu schleppen, sich aber
erbot, die Mannschaft an Bord zu nehmen. Nachdem die letztere das Schiff ver-
lassen hatte, sandte der Kapitän des „Meteor“ einige seiner Leute an Bord der
Bark, die später von zwei Grimsbyer Fischerfahrzeugen Assistenz erhielt und auf
dem Humber eingebracht wurde. Auf dem letzteren Revier sind drei Fahrzeuge
gestrandet, deren Besatzungen ebenfalls nur zum Theil gerettet werden konnten.
Um so größer ist die Zahl der mit Havarie in den Humber eingeschleppten
Schiffe. Unter diesen befindet sich auch die Fischersmack „Matchless“, welche
auf See aufgefunden worden war, während sie nur einen 14)jährigen Knaben an
Bord hatte. Die vier übrigen Leute des Schiffes sind verschwunden; der Junge
weils nur, dafs er am Sonnabend während des Sturmes sich allein in der Kajüte
befunden und plötzlich einen Krach gehört hat; als er an Deck sprang, war der
Mast gebrochen und die übrige Mannschaft fort. Die Smack war in Kollision
gewesen, da sich auf Deck die Gallionsfigur eines fremden Schiffes vorfand. Der
von Malmö in West-Hartlepool angekommene englische Dampfer „Storrea Lee“
hat bei dem fürchterlichen Wetter in der Nordsee die Mannschaften der nor-
wegischen Bark „Altoa‘“ und des russischen Dreimastschoners „John & Julie“
gerettet; erstere befand sich auf der Reise nach Norwegen und drohte jeden
Augenblick unterzugehen, letzterer lag bereits mit dem Deck dem Wasserspiegel
gleich. Die Rettung der Schiffbrüchigen war mit grofsen Schwierigkeiten ver-
knüpft, da das Boot des Dampfers nicht längsseit kommen konnte und die voll-
ständig erschöpften Seeleute mit Leinen ins Boot gezogen werden mulsten.
Auf deutscher Seite ist es vor Allem der Verlust von sechs Fischdampfern
von der Weser und zwei solchen von der Elbe, sowie einer grofsen Anzahl von
Fischerbooten, der diesen Sturm unvergefslich machen wird. Bis auf geringe
Wrackstücke, die man bei Horns Riff zu Tage gefördert hat, sind alle acht
Schiffe spurlos verschwunden. Mit den sechs Fischdampfern von Geestemünde
sind allein 61 Menschenleben zu Grunde gegangen, Die traurige Liste der in
diesem Sturm verschollenen Schiffe ist noch nicht endgültig abgeschlossen, die
Zahl der Opfer läfst sich deshalb noch nicht angeben. Mit Sicherheit wird an-
genommen, dafs die Hamburger Dampfer „Napoli“ und „Milos‘“ in diesem Sturm
untergegangen sind. Der Bremer Dampfer ‚„„Lahneck‘ strandete während des-
selben auf Schiermonnikoog; die Mannschaft wurde gerettet, das Schiff ist verloren.
Ueber den Verlauf des Sturmes auf der offenen Nordsee liegen fast gar
keine Nachrichten vor. Einige wenige Angaben von Personen, die aus höchster
Lebensgefahr entronnen sind, mögen nach Zeitungsberichten angeführt werden.
Das englische Schiff „Lord Templemore“, ein grofser eiserner Viermaster,
welcher am Freitag den 21. Dezember morgens im Schlepptau des holländischen
Schleppers „Oostzee‘, von Cuxhaven nach Swansea bestimmt, in See ging, ist
von dem Orkan, welcher in der Nordsee gewüthet hat, ebenfalls betroffen und
schließlich von einem Schlepper der Verein. Bugsir - Dampfschiffs - Gesellschaft
wieder nach der Elbe eingeschleppt worden. Kapt. Boumann von dem Schlepper
„Oostzee‘“ meldet über die Fahrt Folgendes: Als wir am Freitag Morgen 7 Ühr
mit dem „Lord Templemore‘“ im Schlepptau von Cuxhaven in See gingen,
herrschte schönes Wetter und ruhige See; befanden uns am Sonnabend Morgen
etwa 20 Sm ONO von Borkum, als es begann stark aus SW zu wehen, bei zu-
nehmendem Seegang aus West. Schon um 10 Uhr vormittags wehte ein Sturm,
so dafs die 16zöllige Manila-Schlepptrosse brach. Der Schlepper blieb bis um
2 Uhr am Sonntag Morgen bei dem Schiffe; es wehte ein Orkan aus WNW,
wobei die Wogen stets voll über den Schlepper wegbrachen und das Kesselhaus
sowie die Kommandobrücke stark beschädigten. Das Wasser drang in den
Maschinenraum ein und stand in dem Heizraum bald bis zu den Feuern, so
dafs sich die Pumpenleitungen im Maschinenraum durch Kohlen u. 8. w. ver-
stopften, Alle auf dem Deck in Säcken aufgehäuften Kohlen wurden über Bord