Börgen: Die Gezeiten-Erscheinungen im Irischen Kanal,
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ziemlich leere Bett des Flusses, wobei das Wasser brandend über die flachen
Bänke hinwegschiefst, d. h. wir haben die Erscheinung der Fluthbrandung oder
der Bore, wie wir sie oben mit Airy’s Worten geschildert haben. Die Bedingungen
für die Bildung: einer Fluthbrandung sind: 1. hoher Fluthwechsel, 2. sehr rasches
Steigen des. Wassers, und 3. das Vorhandensein ausgedehnter Bänke im Flusse,
welche bei Niedrigwasser nur mit wenig Wasser bedeckt sind oder auch ganz
trocken fallen. - Diese Bedingungen treffen im Severn bei Newnham zu: der Fluth-
wechsel beträgt 5 bis 6 m, die Dauer des Steigens nur 1* 30”, und das Vorhanden-
sein der Bänke wird von Airy ausdrücklich bezeugt.
2 Wir kommen nun zu dem Umstande, dafs der Fluthwechsel bald gröfser,
bald kleiner ist und in dem hier betrachteten Gebiete zwei Maxima und zwei
Minima zeigt. Der Grund hierfür liegt einfach in der Kreuzung zweier Wellen
und bedarf wohl kaum einer eingehenderen Erläuterung, weil diese Wirkung der
Interferenz zweier Wellen zu den bekanntesten Thatsachen gehört. Es wird daher
wohl weder der sehr grofse Fluthwechsel in Mersey und Morecambe - Bay, wo
die Wellen mit gleichen Phasen, noch der relativ geringe Fluthwechsel auf der
Linie Bardsey-Inseln — Arklow-Bank einerseits und im Nord-Kanal andererseits,
wo sie mit entgegengesetzten Phasen zusammentreffen, einer weiteren Erörterung
bedürfen... Der einzige Punkt, welcher noch untersucht werden muß, ist der, ob
die gegenseitige Lage der Maxima und Minima mit dieser Auffassung zu ver-
einigen ist. Der Nachweis, dafs dies der Fall ist, kann nicht dadurch geführt
werden, dafs der Unterschied der Hafenzeiten an den betreffenden Punkten einen
bestimmten Werth erreicht, denn die Hafenzeit an einem Orte, wo zwei Wellen
sich kreuzen, hängt von der relativen Höhe dieser Wellen ab, sondern es mufs
gezeigt werden, dals die aus der gegeuseitigen Lage der Orte des Maximums und
Minimums berechnete Länge der einzelnen Wellen mit derjenigen übereinstimmt,
welche dieselben nach Mafsgabe der mittleren Wassertiefe haben müssen. Ein
solcher Nachweis kann der Natur der Sache nach bei der Mannigfaltigkeit der
Verhältnisse, den verschiedenen Wassertiefen und dem Winkel, unter welchem
sich die Wellen kreuzen, der keineswegs in allen Theilen des Gebiets. derselbe
zu sein braucht, immer nur näherungsweise geführt werden, und es würde zu weit
führen, wenn wir hier darauf näher eingehen wollten. Am einfachsten gestaltet
er sich, wenn die Wellen in genau entgegengesetzten Richtungen sich fortpflanzen,
dann soll nämlich die Entfernung der Orte des gröfsten und kleinsten Fluth-
wechsels gleich !/4« der Länge der einzelnen Wellen sein. Da sich die irische
Ostküste sehr nahe Nord—Süd erstreckt, so werden wir nicht sehr fehlgehen,
wenn wir annehmen, dafs die erwähnte Bedingung hier erfüllt sein werde. Die
Entfernung zwischen Arklow-Feuerschiff und einem Punkte südlich von Ardglass
beträgt 95 Sm, nehmen wir zwischen beiden Punkten eine mittlere Wassertiefe
von 30m an, so ist die Wellenlänge 413 Sm, !/a derselben also — 103 Sm.
Beide Zahlen stimmen recht gut miteinander überein und haben wohl soviel
Beweiskraft, daß man sagen darf, sie widersprechen der vorgetragenen Auf-
fassung nicht.
Wir haben bisher die Wellen als einfache angesehen, und als solche er-
scheinen sie auch der Beobachtung. In Wirklichkeit setzen sie sich aber aus
mehreren zusammen, von denen ein Theil der Attraktion des Mondes, der andere
derjenigen der Sonne seine Entstehung verdankt. Unter diesen sind es nament-
lich zwei Wellen, eine Mond- und eine Sonnenwelle, durch welche der Charakter
und Verlauf der Gezeiten bestimmt wird, während die anderen diese nur leicht
modificiren nach dem wechselnden Abstand der Gestirne von der Erde und ihrer
Lage zum Aequator. In der Regel, und so auch in dem überwiegend gröfsten
Theile unseres Gebietes, ist die Mondwelle die gröfsere und für die Gezeiten
ma(sgebend; wir haben jedoch oben erwähnt, dafs dies für die Gegend um
Courtown nicht der Fall ist, dafs hier zwar der Einflufs des Mondes nicht ver-
schwindet, dafs aber die Gezeiten mehr der Sonne als dem Monde folgen. Hier-
aus mufßs geschlossen werden, dafs die Sonnenwelle höher sein mufs als die
Mondwelle, und es fragt sich nun, ob wir im Stande sind, diese in den euro-
päischen Gewässern einzig dastehende Thatsache zu erklären. Eine sehr wahr-
scheinliche Erklärung hat schon Airy in den „Philosophical Transactions“, 1842,
Seite 121, gegeben, indem er die Ansicht äufsert, dafs der Grund hierfür darin zu
suchen sei, dals der Knoten der Mondwellen (d. h. der Punkt, wo die beiden