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Full text: Annalen der Hydrographie und maritimen Meteorologie, 22 (1894)

100 Annalen der Hydrographie und Maritimen Meteorologie, November 1894. 
nahezu eine Verdoppelung stattfindet, Fluthwechsel von ca. 5 m erwarten dürfen. 
Dies ist in der That überall der Fall, wo wir es mit der einfachen Welle zu 
thun haben, wie an der Westküste Irlands und des nördlichen Schottlands, 
während im Irischen Kanal noch stellenweise eine weitere Steigerung der Höhe 
stattfindet, infolge der Interferenz der von Norden nach Süden in denselben ein- 
dringenden Zweige der Hauptwelle. Auch hier wird die Welle, wegen ihrer 
Tendenz, sich nach Osten fortzupflanzen, vorzugsweise an die englische Küste ge- 
drängt. Dies erklärt, weshalb wir überall an der englischen, irischen und 
schottischen Westküste sehr erhebliche Fluthwechsel finden; es bleibt aber noch 
der Umstand zu erklären, weshalb der Fluthwechsel an der irischen Ostküste, 
trotzdem sie den Küsten mit hohem Fluthwechsel relativ nahe liegt, so sehr viel 
kleiner ist. Dies hängt nach unserer Auffassung mit der Fortpflanzungsrichtung 
der Welle zusammen. Diese geht, wie wir gesehen haben, nach Osten und behält 
diese Tendenz nach Osten bei, auch wenn sie gezwungen wird, eine andere 
Richtung einzuschlagen, und wird daher, wie schon gesagt, an die Westküsten 
gedrängt und hier hohe Fluthen erzeugen. Die irische Ostküste liegt also gleichsam 
in Lee, und es fällt hier vor Allem die Erhöhung der Welle infolge der Reflexion 
weg, wodurch sich der hier zu erwartende Fluthwechsel auf annähernd die Hälfte 
lesjenigen reducirt, welcher an den Luvküste; statifindet. Wie wir noch sehen 
werden, treffen zwischen Ardglass und Cranfield Point die von Norder und die 
von Süden kommende Welle mit gleichen Höhen zusammen, die Höhe jeder 
einzelnen Welle ist also die Hälfte des hier beobachteten Fluthwechsels. Da 
Jieser 4,9 m beträgt, so ist die Höhe der ursprünglichen Welle ungefähr 2,5 m, 
was sehr gut mit unserer obigen Annahme (2,7 m) übereinstimmt, namentlich 
wenn man berücksichtigt, dafs die Welle durch Reibung ziemlich rasch an Höhe 
einbüfst, Somit dürfte der zweite Punkt ebenfalls vollkommen befriedigend 
erklärt sein. 
Wir wollen nun die Erscheinung des ungewöhnlich hohen Fluthwechsels 
im Bristol-Kanal und Severn behandeln. Wir wir soeben gesehen haben, ist die 
Welle, welche sich auf die englische Küste zu bewegt, schon erheblich erhöht 
durch den Uebertritt auf relativ flaches Wasser, eine Wirkung, welche sich bei 
der fortschreitenden Verflachung des Wassers noch steigern mufß, wenn auch ein 
Theil derselben infolge der Reibung wieder verloren geht. Schon durch diesen 
Umstand wäre es erklärlich, dafs die in den Bristol-Kanal eintretende Welle eine 
erheblichere Höhe erreichte, dies ist aber nicht entfernt ausreichend, die aufser- 
gewöhnliche Höhe des Fluthwechsels in diesem Gebiete zu erklären. Hierzu 
kommen noch zwei Ursachen, welche in ihrem Zusammenwirken zur Erklärung 
der Erscheinung vollkommen ausreichen. Die erste dieser Ursachen liegt in dem 
Umstande, dals vor der Mündung des Bristol-Kanals die aus dem Ocean 
kommende Welle und die im Norden um Irland durch den Irischen Kanal sich 
fortpflanzende Welle nahe mit gleichen Phasen zusammentreffen, ihre Höhen sich 
also addiren. Die zweite Ursache liegt in der Gestaltung des Bettes, in dem sich 
die kombinirte Welle nun weiter fortbewegt. Dieses bildet einen sich rasch ver- 
engenden Trichter, und hierin haben wir eine mächtige Ursache zur Erhöhung 
der in denselben eindringenden Welle. Auch hier macht sich die östliche Ten- 
denz der Welle geltend, indem wir auf dem östlichen Ufer des Kanals höhere 
Fluthwechsel verzeichnet finden als auf dem westlichen (z. B. Kings Roads 12,2 m, 
Chepstow 11,6 m). Wir können daher auch diese Erscheinung als eine theoretisch 
vollständig und leicht erklärbare ansehen. Zugleich bietet das weitere Fort- 
schreiten der Welle im Severn-Flufs eine Illustration für die Wirkung der 
Reibung, welche in dem immer enger und flacher werdenden Bett der Welle 
[reilich eine starke Wirkung ausüben mufßs. Nachdem bei Chepstow 11,6 m 
Springfluthwechsel beobachtet werden, sinkt derselbe schon bei Newnham, 15 bis 
16 Sm weiter flufßsaufwärts, auf 5 bis 6 m und beträgt bei Gloucester nur noch 
1,2 bis 2,1 m. 
Eine andere Wirkung der Beeinflussung der Welle durch Aenderung der 
Wassertiefe und Verengerung ihres Bettes ist die, dafs, je stärker diese Beein- 
flussung ist, um so kürzere Zeit zum Steigen des Wassers von seinem niedrigsten 
zum höchsten Stande und umgekehrt, um so längere Zeit zum Fallen gebraucht 
wird. Geschieht das Steigen sehr rasch, so sieht man an geeigneten Plätzen die 
Welle mit geneigter Front heranrücken, und sie füllt in kurzer Zeit das vorher
	        
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