398 Annalen der Hydrographie und Maritimen Meteorologie, November 1894.
Für die Erklärung ist es wesentlich, sich den allgemeinen Verlauf der
Fluthwellen, welche hier in Frage kommen, klar zu machen, und werden wir daher
zunächst auf diesen Punkt einzugehen haben. Im Atlantischen Ocean pflanzt
sich die Fluthwelle im Allgemeinen von Süden nach Norden mit großer Ge-
schwindigkeit, wie sie der grofsen Wassertiefe entspricht, fort. Wenn die Welle
nach Passirung von Kap Finisterre auf den steil abfallenden Abhang der Bank,
auf welcher die Britischen Inseln sich aufbauen, trifft, so wird die Fortpflanzungs-
Geschwindigkeit dieses Theiles der Welle verlangsamt gegenüber demjenigen
Theile, welcher auf tiefem Wasser weitereilt, und die Richtung, in welcher sich
dieser Theil der Welle ausbreitet, wird aus einer nördlichen in eine östliche oder
wohl eher ostnordöstliche verändert werden. Mit dieser Richtung trifft die Welle
auf die Britischen Inseln und tritt in die Wasserstrafsen ein, welche diese unter
sich und von dem Kontinent trennen. Was speciell das hier betrachtete Gebiet
betrifft, so hat die Welle von zwei Seiten, südlich und nördlich um Irland herum,
Zutritt zu demselben, wir haben daher mit der Interferenz zweier Wellen zu
rechnen, und es läfst sich in der That nachweisen, dal die oben besprochenen
Erscheinungen ohne Ausnahme Folgen einer solchen sind.
Dafs die Fortpflanzung der Welle in annähernd ostnordöstlicher Richtung
vor sich geht, wird durch folgende Betrachtung klar werden. Vergleichen wir
die Hafenzeiten an der Westküste Irlands, wo wir es sicher nur mit einer
Welle zu thun haben und zwar von solchen Punkten, welche möglichst frei
gelegen sind, so sehen wir, dafs von Süden nach Norden ein sehr langsames
Wachsen derselben stattfindet, d. h. dafs diese Punkte fast gleichzeitig, jedoch
im Norden etwas später, Hochwasser haben als im Süden. So finden wir in den
Gezeitentafeln folgende Zahlen: Cape Clear 4» 0”, Valentia 3* 42”, Slyne Head
4% 30”, Clare-Insel 4* 38”, wobei zu bemerken ist, dafs Valentia etwas westlicher
als die anderen Punkte liegt, und daher bei der angenommenen Fortpflanzungs-
richtung der Welle früher Hochwasser bekommt als die anderen Punkte, welche
nahezu auf einem gröfsten Kreise liegen. Nehmen wir, was wohl annähernd
stimmen dürfte, die mittlere Tiefe zwischen Cape Clear und Clare-Insel zu 75 m
an,!) so finden wir, daß auf dieser Tiefe eine Welle 1* 8” gebraucht, um 1° des
gröfsten Kreises zurückzulegen; sie würde also bei nördlicher Fortpflanzungs-
richtung 2* 50* gebrauchen, um die 2!/2° Breitenunterschied von Cape Clear bis
Clare-Insel zu durchlaufen, während der Unterschied der Hafenzeiten nur 0b 38”
beträgt. Dies zeigt entscheidend, dafs die Fortpflanzungsrichtung der Welle
keinenfalls Nord sein kann; ebensowenig kann sie aber rein östlich sein, denn
alsdann müßte Cape Clear etwas später Hochwasser haben als Clare-Insel. Wir
werden daher annehmen müssen, dafs die Welle sich nach Ost mit einer geringen
nördlichen Komponente, also etwa nach ONO, fortpflanzen werde. Valentia liegt
etwa 1A ° des gröfsten Kreises westlich von dem gröfsten Kreise durch Clare-
Insel und Cape Clear. Läge es auf diesem Kreise selbst, so würde man, unter
Voraussetzung von 75 m Wassertiefe, in der Breite von Valentia eine Hafenzeit
von 3b 42" + '/ (1 8”) — 4" 16“ erhalten, also ganz übereinstimmend mit
der vorausgesetzten Fortpflanzungsrichtung der Welle. Es könnte scheinen,
dafs man diese noch sicherer durch ähnliche Vergleichung von Punkten an der
Süd- oder Nordküste, welche in der angenommenen Richtung verlaufen, würde
nachweisen können. Dazu ist aber zu bemerken, dafs wir es dort nicht mehr
mit einer einfachen Welle zu thun haben, weil sich namentlich an den östlichen
Punkten die Interferenz der beiden Wellen, von der wir oben sprachen, geltend
macht. An Orten aber, wo das Hochwasser durch die Interferenz zweier Wellen
entsteht, hängt die Hafenzeit von der relativen Höhe derselben ab, und damit
hört die einfache Beziehung zwischen Hochwasser und der Lage des Kammes
der Welle, welche bei einfachen Wellen stattfindet, und ebenso die Möglichkeit,
aus dem Vergleich der Differenz der Hafenzeiten zweier Orte mit der Zeit,
welche die Welle nach Mafßfsgabe der Wassertiefe zur Zurücklegung ihrer Ent-
I) Es ist übrigens ganz gleichgültig, welche Tiefe wir annehmen, denn durch keine irgend
wahrscheinliche Annahme läfst sich der geringe Unterschied der Hafenzeiten von Cape Clear und
Ciare-Insel und der dazwischen liegenden Punkte durch eine Süd-—Nord-Fortpflanzung der Welle
erklären. Erst bei einer Tiefe von 1500 m würde die Welle in 38 Minuten 2,5° des gröfsten Kreises
zurücklegen, eine solche mittlere Tiefe anzunehmen, ist aber im gegenwärtigen Falle vollständig
ausgeschlossen.