Neumayer: Die wissenschaftliche Erforschung der antarktischen Region. 457
Esistals wünschenswerthzu bezeichnen, dafs ein besonderes
dafür niedergesetztes Komitee sich mit der Deutschen Polar-
kommission in Verbindung setze, damit die innerhalb dieser
Kommission gemachten Erfahrungen zugänglich gemacht werden
können und Einheitlichkeit in dem Vorgehen zu Zwecken. der
Polarforschung angebahnt werde,
Das Komitee hat dem fünften Deutschen Geographentag
Bericht zu erstatten.
Der in dem letzten Absatze des Antrages geforderten Berichterstattung vor
dem V. Deutschen Geographentag in Hamburg (1885) wurde von Dr. Neumayer
and Dr. Ratzel in zwei aufeinander folgenden Vorträgen genügt.!)
Wenige Wochen nach dem Vortrage in Nürnberg erhielt Dr. Neumayer
in Hamburg den Besuch des berühmten Mitgliedes der Challenger-Expedition,
Dr. John Murray, um mit ihm über die Wiederbelebung der Südpolar-Forschung
zu berathen. Es ging aus der Besprechung hervor, dafs der um die Wissenschaft
hochverdiente Gelehrte mit Nachdruck in die Bestrebungen zu Gunsten dieser
Forschung einzutreten wünschte und damit begonnen habe, sich die Urtheile
einzelner Gelehrten, die sich mit dem Gegenstande befafst haben, einzuholen.
Dadurch veranlaßt, entwarf Dr. Neumayer eine Denkschrift über seine dies-
bezüglichen Ansichten, von welcher im Vorstehenden, seinen Nürnberger Vortrag
ergänzend, einige Ausführungen entlehnt worden sind.
Dr. Murray hatte in den letzten Monaten sich bemüht, eine Wieder-
belebung der antarktischen Forschung zu bewirken. Am 27. November d. J.
hat er zu gleichen Zwecken in einer Versammlung der Royal Geographical Society
in London einen Vortrag gebalten, welchem wir nach einem Berichte der Zeit-
schrift. „Nature“?) die folgenden bemerkenswerthen Einzelheiten entnehmen:
Dr. Murray entwarf ein Bild der Geschichte der Reisen nach dem hohen
Süden und von den Vorstellungen, welche man sich von den frühesten Zeiten
bis zur Gegenwart von der Natur der Südpolar-Regionen entworfen hatte. - Er
zeigte, dafs, während der ausgedehnte südliche Kontinent, welchen sich die
Geographen früherer Zeiten gedacht hatten, durch die Zunahme unserer Kenntnifs
rasch verringert worden ist, eine Wahrscheinlichkeit besteht, dafs rund um den
Südpol ein Landareal von ungefähr vier Millionen Quadratmeilen wirklich vor-
handen ist. Er deutet den gegenwärtigen Stand unserer Kenntnifs dieser Region
an und hebt hervor, dafs dieselbe aulserordentlich dürftig ist, und entwickelt
ferner, dafs, ehe diese Kenntnifs beträchtlich erweitert sein wird, viele wichtige
Probleme der Wissenschaft ungelöst bleiben müssen. Ehe wir nicht eine voll-
ständige und ununterbrochene Reihe von Beobachtungen aus dem antarktischen
Gebiete hätten, wäre es unmöglich, die Meteorologie der Erde zu verstehen.
Bedeutende Probleme der Geologie, der Biologie, der Physik, der Oceanographie
verlangten eine Wiederaufnahme der Forschung in einem entsprechend grofsen
Mafsstabe innerhalb des Südpolar-Gebietes. Dr. Murray schließt seinen Vortrag
mit den folgenden Worten:
„Während der letzten Monate befand ich mich in Verbindung mit
Geographen und wissenschaftlichen Leuten in verschiedenen Theilen der Erde,
und ich kann nur sagen, dafs eine vollständige Einmüthigkeit besteht hinsichtlich
der Erforderlichkeit, nein, der Nothwendigkeit einer Südpolar - Erforschung.
Ueberall giebt man seinem Erstaunen darüber Ausdruck, dafs nicht schon vor
langer Zeit eine Expedition ausgerüstet wurde, um Untersuchungen auszuführen,
welehe — wie man von allen Seiten zugiebt — von dem gröfsten Werthe für
die Entwickelung so zahlreicher Zweige der Naturforschung sein würden.“
„Zur Bestimmung der Natur und der Ausdehnung des antarktischen
Kontinents einzudringen in das Innere, Tiefe und Beschaffenheit der Eiskalotte
zu bestimmen, den Charakter der unterliegenden Felsen und ihrer Fossilien zu
H Dr. Neumayer: „Nothwendigkeit und Durchführbarkeit der antarktischen Forschung vom
Standpunkte der Entwickelung der geophysikalischen Wissenschaften, insbesondere des Erdmagnetismus
and der Meteorologie“, sowie ferner Dr. Ratzel: „Aufgaben geographischer Forschung in der Antarktis“.
Verhandlungen des V. Deutschen Geographentages in Hamburg (1885).
2) 30. November 1893, No. 1257, Vol 49, S. 112,
Ann. ad. Hydr. ete., 1893, Heft XIL