Börgen: Ueber die Berechnung eines einzelnen Hoch- oder Niedrigwassers.
wasser. Wie sehr dies aber von der Wahrheit abweichen kann, mag die Bemerkung
zeigen, dafs es Oertlichkeiten giebt, wo das Wasser nur 3, 2 und sogar noch
weniger Stunden zum Steigen und 9, 10 und mehr Stunden zum Fallen gebraucht,
beispielsweise steigt in Hamburg das Wasser im Mittel in 4* 39 vom niedrigsten
zum höchsten Stande und fällt in 7*46" wieder vom höchsten auf den nie-
drigsten Stand.
3. Mit wenigen Ausnahmen!) wird in der Tabelle der halbmonatlichen
Ungleichheit keine Rücksicht auf die wechselnde Entfernung des Mondes genommen,
obwohl durch diese Vernachlässigung unter Umständen Fehler bis zu 30 Minuten
und mehr entstehen können.
4. Der Hauptgrund aber, welcher die gegenwärtig von den nautischen
Hülfstafeln gegebenen Mittel zur Berechnung des Hochwassers so wenig für
diesen Zweck geeignet erscheinen läfst, ist die gänzliche Vernachlässigung der
sogenannten täglichen Ungleichheit oder, wie man es richtiger ausdrücken würde,
der eintägigen Fluthwelle. Man glaubte dieselbe vernachlässigen zu können,
weil sie in dem Atlantischen Ocean und speciell an der grofßsbritannischen Küste
nur eine sehr geringe Rolle spielt; aber schon an der nordamerikanischen Ost-
küste kann die Verschiebung der Eintrittszeit des Hoch- oder Niedrigwassers
infolge ihres Einflusses bis zu einer Stunde und die Verschiedenheit in der Höhe
der beiden Hoch- oder Niedrigwasser des Tages auf einen halben Fufs und mehr
steigen. Noch viel erheblicher ist aber der Einflufs in allen anderen Oceanen,
er kann sich auf 3 Stunden in der Eintrittszeit steigern und in Höhe so bedeutend
werden, dafs zeitweilig nur ein Hoch- und ein Niedrigwasser im Tage stattfindet,
indem nämlich die Höhe des einen Hochwassers so stark erniedrigt und diejenige
des einen Niedrigwassers so stark erhöht wird, dafs beide in einander fliesen,
so dafs keine von beiden Phasen zu Stande kommt, dagegen der Wasserstand
sich längere Zeit nahezu auf dem mittleren Niveau hält. Dies ist in vielen Häfen
an der indischen und australischen Küste der Fall, und im Golf von Tongking
steigert sich die Wirkung der eintägigen Fluthwelle derart, dafs das einmalige
Hoch- und Niedrigwasser im Tage zur Regel, das zweimalige Vorkommen dieser
Phasen zur Ausnahme wird. In diesen Fällen begnügen sich die Listen der
Hafenzeiten mit warnenden Bemerkungen, wie: die Fluthen verlaufen sehr unregel-
mäfig oder: die Gezeiten werden durch die tägliche Ungleichheit stark beeinflufst
und dergleichen.
In Fällen, wo die tägliche Ungleichheit sehr stark ist, ist die Anwendung
der jetzt gebotenen Hülfsmittel völlig nutzlos, weil man durch dieselben auch
nicht einmal einen genäherten Werth der Zeit und gar keine Vorstellung von der
zu erwartenden Höhe einer Phase der Gezeiten erhalten kann.
Es werden nun allerdings von den verschiedenen seefahrttreibenden
Nationen ausführliche Vorausberechnungen veröffentlicht, doch beziehen sich die-
selben meistens nur auf die Küsten des eigenen Landes, und es ist weder
anzunehmen, daß ein Schiff alle diese verschiedenen Publikationen an Bord
haben werde, noch können andererseits die Gezeitentafeln alle Fälle umfassen,
weil sie dadurch zu umfangreich und kostspielig werden würden; auch würde es
kaum möglich sein, allen Bedürfnissen zu genügen.
Oft genug wird daher an den Seefahrer die Nothwendigkeit herantreten,
so gut, wie er es mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln vermag, sich selbst
die Information bezüglich des Standes der Gezeiten zu verschaffen, deren er
bedarf. Da nun, wie hervorgehoben, die gegenwärtig zu diesem Zwecke gegebenen
Mittel hierzu durchaus ungenügend sind, so tritt die Frage an uns heran, ob es
nicht möglich sei, dieselben durch andere und bessere zu ersetzen, und die nach-
folgenden Zeilen sind dazu bestimmt, solche Vorschläge zu machen.
Diese Aufgabe ist neuerdings in England von Professor G. H. Darwin
behandelt worden, und es ist zum grofsen Theil die Anregung, welche Verf. d.
aus Darwin’s Arbeit?) geschöpft hat, welche ihn veranlalste, das Problem auch
seinerseits zu bearbeiten. Es würde zu weit führen, hier den Weg, welchen
Professor Darwin eingeschlagen hat, im Einzelnen darzulegen, doch mögen die
folgenden kurzen Bemerkungen das Ziel kennzeichnen, welches er zu erreichen
1) Z. B. Breusing: Nautische Hülfstafeln.
2) On tidal predietion. Phil. Trans. Vol. 182 (1891).