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Ueber das nautische Längenproblem.
Der vorliegende Fall bestätigt demnach, dafs sich durch die gewöhnliche
Rechnung dieselbe Genauigkeit erreichen läfst, wie nach Bessel’s Methode,
und zwar ohne in zu verwickelte Rechnungen zu gerathen. Im Gegentheil ist
die gewöhnliche Rechnung übersichtlicher und leichter, ohne an Strenge dabei
einzubüfsen.
Bessel äufserte noch 10 Jahre später, 1 ) er glaube, dafs seine Berech
nungsmethode der Monddistanzen, trotz des Fehlschlagens ihrer Einführung in
den Seegebrauch durch die ganz dazu eingerichteten Schumacher’schen
Ephemeriden (1835—1838), nicht für immer der Vergessenheit übergeben sein
werde. Er erwarte vielmehr in einer nicht fernen Zeit die Anwendung dieser
Methode zur besseren nautischen Längenbestimmung und zur Berichtigung der
Chronometer.
Immer wird dabei natürlich noch von der alten Voraussetzung aus
gegangen, dafs Thermometer und Barometer in nautischen Rechnungen über
haupt unberücksichtigt blieben, und wenn man sie auch berücksichtigen wollte,
man durch die, mit der mittleren Refraktion berechnete „Logarithmisehe Differenz“
nicht dazu kommen könne.
Der Vergessenheit übergeben wird ein solches theoretisches Kunstwerk,
wie die Bessel’sche Methode, vom historischen Standpunkte gewifs nicht. Sie
wird aber aufserdem schon unvergessen bleiben durch die zweckmäfsige Betrach
tungsweise, wie die Berücksichtigung der Abplattung der Erde bei dieser und
ähnlichen Rechnungen sich auch praktisch künftig empfiehlt.
Das Bes sei’sehe Verfahren der vollständigen Umkehrung der gewohnten
Rechnung konnte Anfangs zu dem Mifsverständnifs führen, als wenn damit nur
für einen, der Beobachtungszeit nahe liegenden Zeitpunkt, die scheinbare Distanz
und ihre Veränderung berechnet sei, um aus diesen Veränderungen die zur
beobachteten scheinbaren Distanz gehörige Zeit in Greenwich durch Interpolation
zu finden, und dafs dann sogar schliefslich die Veränderung der wahren Distanzen
den Veränderungen der scheinbaren Distanzen substituirt wäre. Bessel selbst
scheint auch eine Ahnung von der Möglichkeit eines solchen Mifsverständnisses
gehabt zu haben, indem er nach der Entwickelung seiner Formel für die
Aenderung (n') der scheinbaren Distanz (infolge der Aenderung der geschätzten
Länge) am Schlüsse des 5. Abschnitts Folgendes anführt:
„Bei dieser Gelegenheit erwähne ich des besonderen Falles, welchen die
Methode der Monddistanzen darbieteu kann, dafs nämlich die scheinbare Ent
fernung bis zu einem Maximo wächst und dann wieder abnimmt, also während
einer beträchtlichen Zeit ohne merkliche Aenderung bleibt. Dieses kann sich
ereignen, wenn das Gestirn, dessen Entfernung vom Monde gemessen wird, dem
Untergange zugeht, der Mond aber sehr hoch steht; einen vorgekommenen Fall
dieser Art hat Herr Rümker („Astron. Nachr.“ No. 5) angeführt. Der oben
entwickelte Ausdruck von n' läfst keinen Zweifel darüber, dafs der Mittags
unterschied in diesem Falle eben so gut bestimmt werden kann als in jedem
anderen; da dieses aber auch ohne meine Rechnung klar wird, so erwähne ich
des Falls nicht sowohl um ihn aufzuklären, als um zu bemerken, dafs die
Beobachtung eines solchen Maximums allein, ohne Zuziehung der Zeit
bestimmung, den Mittagsunterschied ergiebt. In Fällen, wo die Zeitbestim
mung nicht sicher ist, wild ihr Fehler desto weniger nachtheilig sein, je lang
samer die scheinbare Entfernung sich ändert.“
Der Fall ist aber doch interessanter, als dafs er verdiente, hier ohne
nähere Darstellung übergangen zu werden, und die obigen Bemerkungen von
Bessel darüber eine vollständige Erklärung des Wesens einer solchen etw.as
paradox scheinenden Längenbestimmung nicht geben, auch nicht geben wollen.
Aber besser als durch Worte allein klärt sich die Sache auf, wenn man dabei
ein bestimmtes Beispiel vor Augen hat, wozu die folgenden, von Bessel er
wähnten Riimker’schen Beobachtungen auf einer Reise nach Australien dienen
können, welche in den „Astron. Nachr.“ (Bd. I, Altona 1823, S. 77) enthalten
sind, wo sie unter anderen wissenschaftlichen Mittheilungen in einem Briefe von
Rümker an Olbers stehen:
') „Astron. Untersuchungen“ von F. W. Bessel. Bd. 2, Königsberg 1842, S. 266—307.