Gerhard Neumann: Eigenschwingungen der Ostsee
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In Abb. 25 sind die Wasserstandskurven von Tallinn und Helsinki für vier Schwingungsfällc dargestellt.
Wenn wir die Wasserstandskurven beider Stationen miteinander vergleichen, dann finden wir tatsächlich die
theoretisch geforderte Phasenverschiebung angedeutet. In Tallinn werden die Extremwerte stets früher erreicht
als auf der anderen Seite des Finnischen Meerbusens in' Helsinki und zwar beträgt die Phasenverschiebung im
Durchschnitt 2 bis 3 Stunden. So lassen sich also durch die ablenkende Kraft der Erdrotation die kleinen
Phasendifferenzen erklären, die bei den Schwingungskurven einzelner gegenüberliegender Stationen beob
achtet werden.
Den Einfluß der Erdrotation auf die Eigenschwingungen eines rechteckigen Wasserbeckens hat
G. I. Taylor 1 ) in der bekannten Arbeit über die Reflexion einer Gezeitenwelle am Ende eines geschlossenen
Kanals näher behandelt. Die etwas schwierigen Ableitungen führen zum Ergebnis, daß der Einfluß der Erd
rotation sich bei diesen Eigenschwingungen einmal in einer Verlängerung der Periode äußert, andererseits
darin, daß die einfache Schaukelbewegung sich in eine Drehwelle in der Richtung der Erdrotation umwandelt.
Um den Einfluß in jedem einzelnen Fall zahlenmäßig zu erfassen, sind recht langwierige Rechnungen not
wendig. G. I. Taylor hat nur einen Fall etwas eingehender zahlenmäßig erfaßt. Er gilt für ein Becken, das
zweimal so lang als breit ist und in dem die längste freie Periode des Beckens mit der Rotationsperiode des
selben übereinstimmt. Die letztere ist in der Breite (p bei der Erdrotation « sin <p. Taylor findet, daß
unter diesen Umständen, wenn ff die Frequenz der Eigenschwingung bei Einfluß der Erdrotation bedeutet,
= 0.429
2 co sin cp
wird. Bezeichnet man die Periode der Trägheitsschwingungen in der Breite <p mit
sin rp
dann erhält man daraus auch die Beziehung
0.429 ‘
Da in der Breite der Ostsee die Periode der Trägheitsschwingungen rund 14 Stunden ist, erhält man aus
obigem, daß bei einer Eigenschwingung eines doppelt so langen wie breiten Beckens von 28 Stunden ohne
Berücksichtigung der Erdrotation diese Periode bei Rotation im Verhältnis 0,50 zu 0,429 = 1,14 verlängert
wird. Das würde also eine Verlängerung der Eigenperiode um 14 % bedeuten. Dieser Betrag hängt aber stark
vom Verhältnis der Länge zur Breite des rotierenden Wasserbeckens ab und nimmt höchstwahrscheinlich rasch
ab, wenn das Verhältnis Breite zu Länge kleiner wird. Da bei der Ostsee dieses Verhältnis im Mittel etwa
1 : 9 ist, wird der Einfluß der Erdrotation auf die Eigenschwingungen des Ostseebeckens wohl weit unter dem
oben angegebenen Betrag liegen. Es bleibt aber immer noch die Umwandlung der Schaukelbewegung in eine
Drehwelle übrig.
Wegen der geringen Breite der Ostsee und der verhältnismäßig kleinen Strömungsgeschwindigkeiten in
der Längsrichtung sind die durch die ablenkende Kraft der Erdrotation erzwungenen Querschwingungen aber
nur gering und auch die durch Überlagerung mit den Längsschwingungen erzeugten Drehwellen sind nur schwach
ausgebildet. In der Mitte des Schwingungsbeckens bei der Knotenlinie der Longitudinalschwingung sind die
horizontalen Stromgeschwindigkeiten wegen der starken Verbreiterung und Vertiefung der Ostsee sehr viel
kleiner. Die Amplituden der Querschwingung sind an dieser Stelle zu gering, um eine deutliche Drehwelle
in Erscheinung treten zu lassen. Der Einfluß der ablenkenden Kraft der Erdrotation kommt im Ostseebecken
nicht voll zur Geltung, und wir können, ohne einen merklichen Fehler zu begehen, die Eigenschwingungen
der Ostsee als lineare stehende Wellen ansehen.
*) G. I. Taylor: Tidal Oscillations in Gulfs and rectangular Basins, Proc. of the London Math. Soc., Ser. 2, Vol.
20, Parts 2 and 3.