Joachim Bff ii tilgen : Geographie der winterlichen Kaltlufteinbriiche in Europa.
15
Nachdem wir somit die w ichtigsten Arbeiten meteorologischer und geographischer Art zu dem Gegenstand einer
kurzen kritischen Betrachtung unterzogen haben, bleibt uns nur noch ein Rückblick darüber, wie sich die neuen me
thodischen Ideen bei den angewandten meteorologischen Wissenschaften in bezug auf die Dar
stellung von Vorgängen im Luftraum ausgewirkt haben. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die Meteoro-
biologie als Zweig der Medizin schon frühzeitig die von der Medizin entlehnten komplexen Forsdnmgsmethoden auch
auf die atmosphärischen Vorgänge übertragen hat. Die neuere Entwicklung der Meteorologie mußte daher der Meteoro-
biologie nur willkommen sein, und so greift daher z. B. de Rudder (1958) ausgiebig auf sie zurück. Er betont die
Notwendigkeit, Vorgänge, nicht Zustände heranzuziehen, also übertragen auf unser Aufgabenbereich bedeutet es:
nicht Kaltluftmassen allein, sondern Kaltlufteinbriiche heranzuziehen. Nun versteht de Rudder unter den Kalt
fronten (welche dem Begriff Kaltlufteinbrueh entsprechen!) nur zweierlei, einmal die an eine Zyklone gebundenen
Rückseitenvorstöße und „anhangsweise“ die Grenzzone des osteuropäischen (ergänze: winterlichen) Hochdruckgebietes.
Gerade bei diesem Punkte muß ausführlicher auf d R. eingegangen werden, denn er berührt die vorliegende Arbeit
unmittelbar und bildet gleichzeitig eine wichtige Voraussetzung für de Ru d ders Schlußfolgerungen. Spricht man
von den großzügigen Klimasystemen, den telliirischen und den solaren, dann geht es an, zyklonengebundene Kalt-
lufteinbrticlie innerhalb der Polarfront denen des osteuropäischen Kontinentalhoehs gegenüberzustellen. Das reicht
aber nur für eine Betonung eben dieses großzügigen Gegensatzes aus. Im einzelnen, und das dürfte für biologische
Fragestellungen noch wichtiger sein, müssen wir eine genauere Aufgliederung der Kaltluftströnumgen vornehmen,
welche dann immer nodi eine große Variationsbreite hinsichtlich der elementaren Eigenschaften besitzen, also auch
für die Medizin von unterschiedlicher Bedeutung sein müssen. Es ist natürlich hier nicht am Platze, den Wert der
zitierten Kaltfrontgliederung für die biologische Zielsetzung zu erörtern, aber vom geographischen Standpunkte aus
gesehen besagt sie zu wenig, insbesondere ist die Gleichstellung der beiden Kaltfronttypen irreführend. DeRu d cl e r
(S. 24/25) sagt wörtlich: „Nach allem, was bisher beobachtet ist, wirkt diese Grenzschicht mit ihren von
Osten und Nordosten kommenden Kaltlufteinbrüchen biologisch ganz so w ic die oben erörterten Kaltfronten
mit ihrer antizyklonalen Kaltluft. Wenigstens sprechen viele Autoren überhaupt nur noch von »Kalthif'teinbriichen«,
gleidrgültig, welcher Herkunft.“ Der Geograph wird diese Vermengung, deren Berechtigung auch nur behauptet, nicht
bewiesen wird, nicht anerkennen können. Auch sind die kontinentalen Vorstöße gar nidit so selten, wie de Rudder
meint, auch wenn wir uns hier nur auf das Winterhalbjahr beschränken und somit die sommerlichen Meeresluftvor-
stöfie unberücksichtigt lassen. Selbstverständlich sind unsere geographischen Indizien eines Kaltlufteinbrudies nidit
gleiclizusetzen den biologisch notwendigen. Die Arbeit d e Rud d e r s haben wir daher nur herangezogen, um audi
die Widitigkeit von Untersuchungen über einen komplexen Vorgang wie den Kaltlufteinbrueh im Bereidie angewandter
Wissenschaft zu zeigen, und zu betonen, wieviel Vorarbeit auf diesem Gebiete noch geleistet werden muß 8 ).
Abgesehen von der biologischen Färbung des Begriffs Kaltlufteinbrueh, welche im Bereich
der Medizin notwendigerweise Anwendung finden muß, konzentriert sich die methodische Aus
einandersetzung hauptsächlich auf den Unterschied zwischen meteorologischer und geographi
scher Methodik. Wir werden im Verlaufe unserer Untersuchungen noch des öfteren darauf
zurückkommen müssen. Zwar ist der Forschungsgegenstand als solcher vorzugsweise von der
Meteorologie her behandelt worden, aber das Zurücktreten geographischer Stellungnahmen zur
Frage der Kaltlufteinbriiche bedeutet nicht, daß er von Natur aus geographischer Blickrichtung
stärker entzogen sei. Es spielt hierbei weniger der Gegenstand selbst, als
vielmehr die Art und Weise, wie an ihn methodisch herangegangen wird
und wie er zur Kennzeichnung klimatischer Räume herangezogen wird,
die entscheidende Rolle. Ähnlich wie es A. Penck in seinem bekannten Ausspruch von
der Morphologie im Streit der Geologen und Geographen gehalten hat, dürfte ein atmosphäri
scher Vorgang, ein Teil des Wettergeschehens, nicht das Primat nur der Meteorologie oder nur
der Geographie sein. Den Gegensatz zwischen meteorologischer und geographischer Betrach
tungsweise hat in jüngster Zeit R. Wörner (1938) hervorgehoben, und seine präzise Formu
lierung kann in vollem Umfange auch der vorliegenden Untersuchung vorangestellt werden
(S. 341): „Die Meteorologie versucht wie bei allen experimentellen Naturwissenschaften für die
Untersuchung die einzelnen Faktoren zu isolieren und die ihnen spezifisch zukommenden Wir
kungen zu erkennen und dann deren Kombination im Sinne der physikalischen Resultanten zu
erfassen. Die Geographie setzt diese Kenntnisse voraus und betrachtet, wie diese Faktoren in
ihrer Gesamtheit auftreten, ihre Wirkungen sieh beeinflussen und so zusammen als ein einheit
liches Gefüge ihrerseits wieder als geographischer Faktor in einem neuen Zusammenhang, dem
Land, eine Rolle spielen.“
Wir haben im Vorhergehenden in kurzen Umrissen die wichtigsten methodischen Beiträge,
die mit unserem Thema näheren Bezug haben, skizziert und dabei festgestellt, daß zwar die
s ) Nidit viel klarer sind in dieser Hinsicht die Ausführungen von v. Heuß (1929)1