Joachim Blüthgen: Geographie der winterlichen Kaltlufteinbruche in Europa.
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B. Einleitung
I. Methodisches.
Die vorliegende Untersuchung berührt sich am engsten mit den Arbeiten moderner
dynamisch-klimatologischer Forschungsrichtung. Bevor wir jedoch auf diese näher eingehen.
ist es notwendig, die älteren Untersuchungen, die zum Thema selbst oder zur Methode
beigetragen haben, zu würdigen.
Unter denen, die am Aufbau der Meteorologie wesentlich gearbeitet haben, ragt Dove
hervor. Unter Berücksichtigung der damaligen mangelnden synoptischen Grundlage muß die
dynamische Betrachtungsweise Doves als so bedeutender Fortschritt gewertet werden, daß
sogar die Bergener Schule im dritten Dezennium unseres Jahrhunderts an seine Gedanken an-
kniipfte und ihnen mit breiter synoptischer Grundlage sowie mit mathematisch-physikalischen
Methoden eine solide Basis verschaffte, die mit unserer heutigen Wetterkunde untrennbar ver
knüpft ist. Wenn also Doves Theorie der Polar- und Äquatorialströme sdion manche
verblüffenden Berührungen mit den in dieser Arbeit behandelten Luftströmungen besitzt, so
ist es klar, daß wir diese Berührungen mit Anschauungen der Bergener Schule über die Strö
mungen im Luftraum in noch viel stärkerer P'orm wiederfinden. Es fehlten Dove, wie gesagt,
die geeigneten Voraussetzungen zu einem Ausbau seiner Idee, aber die Konzeption war da, und
von ihr spannt sich clie Brücke über nahezu ein Jahrhundert. Im Vergleich zu cler differen
zierten Darstellung der Kaltluftvorstöße, welche in der vorliegenden Arbeit angewandt werden
muß, erscheint selbstverständlich Doves erste tastende, großzügige Einteilung cler Luftströ
mungen nur mehr als vornehmlich historisch interessant. Die Entwicklung einer Methode, wie
sie clie vorliegende Arbeit verfolgt, setzt gewissermaßen bei Do ve an. Es sei aber gleichzeitig
vermerkt, daß Dove in einem Punkte mit Hilfe seiner Idee Ergebnisse erreicht hat, welche
auch in der Jetztzeit außer dem rein historischen sogar noch berechtigtes sachliches Interesse in
bezug auf die Kaltluftströmungen erwecken; so muten die Betrachtungen Doves über die Mai
kälte (1857) durchaus modern an. Etwa gleichzeitig mit Dove verkündete cler englische Mete
orologe Fitz Roy (1863) ganz ähnliche Gedanken über die Polar- und Äquatorialströmungen;
er muß daher in diesem Zusammenhang ebenfalls genannt werden. Auf die Bedeutung Doves
für andere Zweige cler Klimatologie und Meteorologie kann hier naturgemäß nicht eingegangen
werden.
Chromow (1935) und Dieckmann (1951 [a]) haben die Arbeiten des oben erwähnten englischen Admirals
und Meteorologen Fitz Roy unter modernem klimatologisdiem Gesichtspunkt gewürdigt. Fitz Roy hat in seinem
1863 erschienenen „Weather Book“ modern anmutende dynamisch-klimatologische Gedanken verfochten; er sprach
bereits von Luftkörpern (bodv of air), und erst in unserer Zeit wurde diese kühne Konzeption theoretisch unterbaut
und bestätigt. Was wir bei cler Besprechung der Nordwestluftvorstöße (Kapitel C 2 a) mehrfach bestätigt finden wer
den, hat bereits Fitz Roy in großen Zügen richtig geschaut, wenn er, in Übersetzung nach Chromow (1955, aus
dem Russ. von O. Moese und E. Biel), folgendes sagt: „Wenn ein Luftkörper sich von dem oder nach dem Pole
bewegt, wird seine Antriebskraft (vis a tergo) oder seine Anziehungskraft (attraction) in Richtung auf ein Gebiet
verminderter Spannung aufhören, während die Masse selbst noch einen gewissen Schwung (impetus) oder ein
Bewegungsmoment besitzt . . . Demzufolge wird ein Luftkörper, der sidi etwa einige hundert Meilen weiter er
streckt, isoliert werden. Abgeschnürt von seinem Ursprungsgebiet und ohne Zustrom von ihm, ist er nun — ob
Polar- oder Tropikstrom — ganz von Luft anderer Art umgeben, er wird in anderen, wechselnden Richtungen ge
trieben, behält wohl noch eine Zeitlang seine charakteristischen Eigenschaften bei, doch schließlich wird er sich ganz
verändert haben und vollkommen in dem die Oberhand erlangenden Luftkörper aufgehen.“
In der Zeit nach Dove entwickelte sieb die Klimatologie zunächst in anderer Richtung, als
die oben zitierten Gedanken andeuteten 5 ). Das Beobachtungsnetz wurde immer dichter und die
-) Lediglidi in W. B 1 a s i u s (1875) fand Dove einen kühnen, weitdenkenden intuitiven Verfechter seiner Ideen,
dessen hei dem damaligen Fehlen jeglicher Aerologie erstaunlich richtige dynamisch-meteorologische Schlußfolgerungen
von seinen Zeitgenossen (außer Margules 1905) abgelehnt wurden. Mit Dove war er der bedeutendste Vorläufer
Bjerknes’ (v. Ficker 1927, 1928).