Joachim Blüihgcu: Geographie der winterlichen Kaltlufteinbrüche in Europa
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A. Vorwort
Diese Arbeit stellt eine Auswertung von Wetterkarten unter einem bestimmten dynamisch-
klimatologisdien Gesichtspunkt für ein geographisches Ziel clar: der Antrieb und die breitere
Grundlage dazu war aber das allwinterlich wiederkehrende bewußte Erleben einer bestimmten
Witterungserscheinung mannigfacher Prägung: eines Kaltluftvorstoßes. Kaum ein Vor
gang im Wettergeschehen vermag landschaftlich wie witterungsmäßig so eindrucksvolle Wir
kungen von oft wirtschaftlicher Tragweite zu erzeugen wie ein Kaltlufteinbruch während des
Winterhalbjahres in unseren Breiten, und kaum ein Witterungsvorgang prägt sich den mensch
lichen Sinnen während dieser Zeit nachhaltiger ein. Seien es die heftigen Schneeschauer aus
Nordwesten, die mit dräuenden Wolkenpropfen heranziehen, mit ihren grauen, schleppenden
Niederschlagsschwaden den weichenden hellen Himmelsstreif verhängen, bis schließlich im
dämmrigen Tageslicht die Schnee- und Graupelmassen in schrägen Stößen dahinfegen und in
oft kürzester Zeit Bäume vom Stamme bis zur kleinsten Astspitze auf der Wetterseite weiß
überkleiden: —- oder seien es die fast unmerklich sich verschiebenden Kältewellen aus
dem eisigen Nordosten, deren durchdringender, beharrlicher Frost ohne Schneefall clas regen
getränkte Land zum plötzlichen Erstarren bringt oder den Tausdbnee auf den Ästen wie zu
ebener Erde hart verkrustet, während die Luft unter grauen Schichtwolken unwirklich klar
und splittertrocken in gleichmäßigem, eisigem Winde das Land überweht: oder seien
es die nebligen Rauhreiftage mit gelindem Frost bei stiller Luft und tagelangem Mittwinter
dämmer. während alle Zweige und Zäune in märchenhaftem Reifbehang prangen, um beim
ersten, den Nebel durchbrechenden Sonnenstrahl in glitzerndem Zauber zu funkeln; —
oder seien es schließlich jene anhaltenden, steifen Winde aus Süclost mit tiefen Frostgraden,
die kaum die Mittagssonne mildert, die alle Gewässer in einen dicken Eispanzer schlagen und
die baren Felder mit der jungen Saat zum Auswintern bringen, während langsam hohe Wolken
Aufziehen, einen immer dichteren Schleier vor die Sonne breiten, und die Winde sich schließ
lich in ergiebigen Schneestürmen mit folgenschweren Verwehungen austoben. — So vermittelt
der Frost in der Verknüpfung mit der Landschaft und seinen atmosphärischen Begleiterschei
nungen eindringliches Erleben vielfältiger Art. das gewissermaßen die Intuition für die vor
liegende Arbeit bedeutete. Aus diesem Erleben erwuchs cler Versuch des wissenschaftlichen
Erfassens der Kaltluftvorstöße als eines geographischen Objekts, clas in zeitlichem und regio
nalem Wechsel immer und überall mit dem Raume unlösbar verknüpft ist und gleichzeitig
vom Menschen als Einheit im Wettergeschehen empfunden wird, also auch in dieser Beziehung
alles andere als eine Abstraktion bedeutet.
Bei einer Behandlung der Kaltlufteinbrüche erhebt sich natürlicherweise clas Bedürfnis nach
einer Parallelarbeit über die Warmluftvorstöße, um auf diese W r eise zu einer Synthese des
Winters zu gelangen, welche selbstverständlich mit cler Kaltluft allein nicht erreicht werden
kann, zumal nicht in unserem Untersudhungsgebiet. Warmluftvorstöße sind jedoch bei weitem
nicht so dankbare Studienobjekte innerhalb einer dynamischen Klimatologie wie gerade Kalt
lufteinbrüche. da sie ihren Sitz vielfach in einer Aufgleitfläche bzw. einer vom Boden ab
gehobenen Luftschicht haben. Das hatte bereits Großmann (1900, S. 4) erkannt, wenn er
schreibt: ..Während wir Kältewellen kennen und im Winter in vielen Fällen bei den Perioden
des schärfsten Frostes den Lufttransport aus dem Kältegebiet im Osten auf den Wetterkarten
mit Sicherheit verfolgen können, dürfen wir von eigentlichen Wärmewellen nur mit Einschrän
kung sprechen." Am ehesten ist dies wohl noch bei den winterlichen Warmluftvorstößen der
Fall. 1 ) Aber nicht allein dieser Unterschied im Objekt selbst war es, der mich zu einer ge-
*) Vgl. aber hierzu die Arbeit v. Fickers (1911), die den Unterschied zwischen Kälte- und Wärmewelleii klar
hervortreten läßt.