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Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte — 53. Band Nr. 6
Eine eigentümliche Art des Abbruchs konnte ich noch durch einen Zufall feststellen. Eines Tages be
obachtete ich, wie ein Ochse seinen Kopf an der Abbruchkante scheuerte. Er wühlte seine Hörner in das
Ufer und riß dann den Kopf hoch. Dadurch verursachte er tiefe Rillen im Ufer und riß ganze Erdstückchen
mit sich. Ich sah mir die Ochsen näher an und mußte feststellen, daß sämtliche auf dieser Weide befind
lichen Tiere Erde, eines sogar einen ganzen Grassoden, zwischen den Hörnern hatten. Das Scheuem am
Ufer scheint bei den Rindern eine allgemein übliche Gewohnheit zu sein.
Ein Angriff des Wassers gegen das Ufer erfolgt nur bei starkem Nordwestwind und durch die Wellen,
die die Schnelldampfer wie „Kaiser“ und „Kobra“ verursachen.
Während eines recht trockenen Sommers (wie z. B. im Sommer 1933) wird der Boden durch das starke
Austrocknen sehr locker. Wenn dann die Herbsthochwasser eintreten, ohne daß der Boden durch vorher
gegangenen Regen genügend durchfeuchtet ist, findet ein besonders starker Abbruch statt.
Einen größeren Umfang nimmt dieser aber erst im Winter und im Frühjahr an. Der Boden ist dann
vom Frost gelockert, und auf der Elbe schwimmen zerborstene Eisschollen. Diese werden vom Nordwest
wind gegen das Ufer gedrängt und richten hier großen Schaden an.
Beim Einsetzen des Frostes kann man beobachten, daß das Watt von lauter kleinen Erdschüppchen
überzogen ist. Diese entstehen wahrscheinlich durch Gefrieren des Wassers, das bei Flut in die Poren des
Ufers eingedrungen ist. Es dehnt sich aus und sprengt dabei die Erde in kleinen Schuppen ab, die bei Hoch
wasser von den Wellen weggeführt werden. So sieht man im Winter, daß sich am Ufer ein Streifen entlang
zieht, der sich aus ganz feinen Erdblättchen zusammensetzt. Die Blättchen behalten nämlich im Wasser
ihre Form bei und schwimmen. Die Wellen setzen sie wieder am Ufer ab, und so bilden sie hier eine läng
liche Aufschüttung. Die Blättchen fühlen sich sehr weich an und haften wie Kitt an den Händen.
Nach länger andauerndem Frostwetter beginnt das Eistreiben. Die Eismassen drängen gegen das Ufer,
schieben sich an ihm empor und über es hinweg Sie reißen und brechen alles ab, was ihnen nicht genügend
Widerstand leisten kann. Vor allem schaben die Eisblöcke, indem sie an dem Ufer entlangrutschen, ganze
Erdmassen vom Ufer ab. (Siehe Bild 16.)
Man kann die schabende Wirkung des Eises deutlich an den Schleifspuren im Ufer erkennen. Ist im
Ufer eine Aushöhlung vorhanden, so schiebt sich eine Eisscholle in diese hinein. Sie wird von den nach
drängenden Eismassen emporgedrückt und reißt dabei die darüber gelagerten Erdschichten ab. Diese fallen
zuweilen auf die Eisschollen und werden von diesen auf die Elbe hinaus oder auf das Vorland verfrachtet.
(Siehe Bild 17.)
Im Frühjahr kann man nach längerem Tauwetter beobachten, daß sich im Ufer tiefe Risse zeigen.
Diese erweitern sich, und schon nach einigen Tagen rutschen die Erdmassen unter ihnen ab. Es ist hier also
im Gegensatz zum Rethabbruchufer eine vertikale Spaltung eingetreten. Das Abrutschen der Erdmassen
läßt sich am ganzen Ufer beobachten. Die abgeglittenen Schichten hatten eine Stärke von ungefähr
20—25 cm. (Siehe Bild 18.)
Die Ursache des Abrutschens ist wohl folgende: Der Frost ist bis zu einer bestimmten Tiefe in das Ufer ein
gedrungen. Er hat dabei die von ihm durchdrungenen Bodenschichten aufgelockert. Diese finden dann an
den von dem Frost weniger angegriffenen Erdmassen keinen Halt mehr und rutschen ab. Die abgerutschten
Erdschichten sind sehr locker, schon bei der ersten Sturmflut werden sie hinweggespült. (Siehe Bild 19).
Die Frühjahrsstürme führen neben der Kraft ihrer Wellen noch eine andere gefährliche Waffe gegen
das Ufer: die noch übriggebliebenen Reste der Eisschollen. Die letzten noch nicht aufgetauten Eisstücke
sind vom Wasser rundgewaschen und treiben nun als kleine Kugeln im Wasser umher. Bei einer Sturmflut
werden sie von den Wellen erfaßt und als Wurfgeschosse gegen das Ufer geschleudert. Die Einwirkung auf
das aufgelockerte Ufer ist außerordentlich groß. (Siehe Bild 20.)
Man bekommt einen Begriff von der Auflockerung des Bodens, wenn man mit der Hand gegen das
Ufer schlägt. Dann rollen nämlich die Erdstückchen wie lockerer Sand das Ufer hinab. Schon durch
Scheuern mit der Handfläche kann man ein Loch in der Uferwand erzeugen.
Die übriggebliebenen, durch die Grasnarbe gehaltenen Kanten des Abbruchufers werden schließlich
vom Vieh abgetreten. (Siehe Bild 21.)
Genau wie beim Rethabbruchsufer wurde der Abbruch des Wiesenabbruchsufers kontrolliert. Die
Messung wurde an vier Stellen vorgenommen. Diese waren ungefähr 400 m voneinander entfernt. Die
Messungen ergaben in Punkt 1 einen Abbruch von 60 cm, in Punkt 2 einen solchen von 90 cm, in Punkt 3
einen von 1,40 m und in Punkt 4 einen von 65 cm. Aus dieser Feststellung kann man also schließen, daß
vom Herbst 1932 bis zum Frühjahr 1933 am Wiesenabbruchsufer ein Abbruch von durchschnittlich
90—100 cm erfolgt ist.