Gerhart Schinze: Die praktische Wetteranalyse.
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2. „Nach van Bebber vertiefen sich die Barometer-Minima, wenn ihre Fortpflanzungsgeschwindigkeit
zunimmt“ (v. Ficker 23 und 24). (Defant 15, I, S. 207.)
Diese Regel ist eine Umkehr von Ursache und Wirkung. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit einer sich
im Druckfelde vertiefenden Zyklone wird vom Moment der Neubildung meist bis zum Augenblick der
Okklusion unter gleichzeitiger Druckabnahme dauernd an Geschwindigkeit zunehmen. Im Moment der
Okklusion wird dann die Zyklone im Druckfeld ihren Maximalgradienten und damit auch ihre Maximal
geschwindigkeit erreichen.
3. „Der im Winter über dem Mittelmeer meist schon niedrige Luftdruck vertieft sich zu einer inten
siven Depression, wenn im Norden eine Depression von den Britischen Inseln über die Nordsee nach der
Ostsee voraneilt. Man pflegt dann die Mittelmeerdepression als ein „Resonanzphänomen des nördlichen
Tiefdruckgebietes zu bezeichnen.“ (Defant 15, I, S. 207.)
Diese Regel gilt besonders für den schon früher beschriebenen West-Wettertjq» (W 1 bzw. W 2),
sowie ferner bei den meisten serienabschließenden Kaltlufteinbrüchen in Mitteleuropa. In allen diesen
Fällen dringen hinter westostwärts fortschreitenden Störungen (Zyklonen bzw. barometr. Minima) Kalt-
luftmasseu zwischen den Alpen und Pyrenäen (häufig als Mistral) ins Mittelmeer ein. Zwischen den ein
brechenden Kaltmassen und den über dem Mittelmeer lagernden wärmeren Luftmassen kommt es dabei
etwa im Gebiete zwischen Korsika und dem Golf von Genua zu Zyklogenese (Abb. 29 und 30). Diese
wird besonders dann begünstigt und intensiv werden, wenn die Abrollungslinie mit ihren zugehörigen
Wellen- und Wirbelstörungen möglichst südlich liegt (Fall W 1 und W 2), so daß die Kaltmassen auf
kürzestem Wege ins Mittelmeer geleitet werden (Bergeron 4, S. 27, Fig. 5).
4. „Die wandernden Tiefdruckgebiete suchen hauptsächlich die großen Wasserbecken auf und meiden
die Gebirge.“ (Sieberg 59, Wetterbüchlein S. 56.)
Eigentlich sollte die Regel lauten: Die barometr. Minima vermeiden die Gebirge und bewegen sich
darum im europäischen Wetterkartenhilde vorwiegend über die großen Wasserbecken, da sowohl die kalten,
als ganz besonders auch die warmen Luftmassen den Weg des geringsten Widerstandes einschlagen. Wenn
eine Störung — auf Grund der allgemeinen Zirkulation — gezwungen eine Gebirgskette überquert,
so müssen erhebliche Luftmassen über die Kette transportiert werden. Dies kann aber in den stabil
geschichteten, sehr viskosen Warmluftmassen gegenüber den weniger viskosen Kaltluftmassen mit großer
Vertikalbewegung und Turbulenz nur unter Aufwand von erheblichen Energiemengen geschehen. Im Druck
felde zeigt sich dann eine starke Verflachung des barometr. Minimums. Als besonders effektive Sperren
sind die skandinavischen Gebirge, die Alpen, das Grönlandmassiv, die Gebirgsketten der Pyrenäenhalb
insel und der Atlas, in zweiter Linie auch die Karpathen, die Sudeten, die Dinarischen Alpen, der
Balkan, der Apennin und der Ural anzusehen. In allen Fällen, wo die Warmmasse nicht gezwungen über
das Gebirge dringt, sondern teilweise — den Weg des geringsten Widerstandes — einschlägt und um das
Gebirge strömt, wird im Druckfelde das Minimum verzerrte Formen bzw. eine längliche Form annehmen.
Hierdurch kommt es leicht zur Ausbildung eines zweiten selbständig werdenden Tiefdruckkerns bzw. einer
Zyklone (z. B. Skagerrak-Zyklone). Der besonderen Verteilung von Gebirgen und Meer entsprechend wird
also in Europa der Wasserweg meist den geringsten Widerstand bieten, was ein Vergleich der van Bebber-
schen Zugstraßen mit der europäischen Topographie deutlich zeigt.
Die Barriere bei Zugstraße I sind die skandinavischen Gebirge. In der kälteren Jahreszeit macht sich
bei ost- und nordostwärts vordringenden Warmluftmassen gerade (bei Wettertyp W 4 bzw. W 5) diese
Barriere des skandinavischen Gebirgsmassives besonders stark geltend. Verstärkend tritt hierzu noch die
winterliche Eigenkaltluftproduktion Südskandinaviens hinzu (vgl. a. „Kältegebirge“), die auf alle ofet- und
nordostwärts vordringenden Störungen (Zyklonen bzw. barometr. Minima) deformierend wirkt. An dieser
Stelle sei besonders erwähnt, daß in der kälteren Jahreszeit ruhende, selbst vertikal nicht besonders
mächtige Kaltluftmassen ein großes Hindernis für eine andrängende Warmmasse darstellen, da zum Weg
räumen von ruhenden Kaltmassen immer besonders große Energiemengen nötig sind. Im Druckfeld sehen
wir dann auf der Wetterkarte ein Sichtotlaufen von Störungen (bzw. barometr. Minima), wobei unter