Dr. Johann Richter: Die Vereisung der ßeltsee und südlichen Ostsee im Winter 1928/29.
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1929. 29. 4. Das Packeis bei Memel hat sich in Treibeis umgewandelt.
30. 4. Die ganze südliche Ostsee ist vollständig eisfrei.
Damit wollen wir diese Beschreibung der Eisverhältnisse abschließen und jetzt zu dem nächsten
Abschnitt übergehen, in dem versucht werden soll, diese Erscheinungen zu erklären. Wir beginnen
unsere Besprechung mit der Wirkung des Klimas auf die Vereisung.
b) Die Wirkung des Klimas auf die Vereisung.
Die Ursache der Vereisung ist die örtliche und zeitliche Temperaturverteilung, die ihrerseits wie
der von den Luftdruckverhältnissen abhängt. Für das Ostseegebiet ist die im Winter über dem sibi
rischen Festlande lagernde x\nticyklone (s. S. 22) wirksam, die ihre gewaltige Kaltluftmasse bis zur
schleswig-holsteinischen Küste hin erstreckt, und die bei ungestörtem Verlaufe einen etwa von Süd
west nach Nordost gerichteten Temperaturabfall verursachen würde. Nun dringen aber, nordost-
wärts fließend, ozeanische Warmluftmassen keilförmig in das Randgebiet dieser Anticyklone ein und
bewirken eine Nord-Süd-Stellung der isothermen, so daß wir im allgemeinen im Winter eine von
West nach Ost gerichtete Temperaturabnahme erhalten. Das Ausmaß dieser Temperaturabnahme ist
aus Tabelle 11 ersichtlich, in der die winterlichen Temperaturmittel ausgewählter Stationen der Ost
seeküste bis nach Riga hin zusammengestellt sind.
Auf Seite 20 hatten wir die „Kältesumme“ als ein Maß für die Strenge eines Winters kennen ge
lernt. Wir wollen nun versuchen, diesen Begriff auch zur Erklärung der Eisverhältnisse der Ost
see zu verwenden. Vorher aber seien kurz noch einige historische Angaben über die Kälte-
suimnen gemacht.
Tab. 11. Midi, lai ft temperai ureo cl. nomate Dez.,
Jan. U. Febr. i. Verlaufe West—Ost.
Beobachtungsstation
Name Position
Skagen
Kopenhagen
Putbus
Stettin
Danzig
Königsberg
Riga
57° 44' N 10° 88' E
55° 41 ' N 12® 36' E
54° 21' N 13°28'E
53 U 26'N 14° 34' E
54° 21' N 18° 49’ E
54° 43' N 20° 30' E
5(1° 57' N 24° 6' E
Temperatur
°_c _
+ 0,83 (1)
+ 0,47 (2)
- 0,23 (3)
-0,23 (4)
- 0,97 (5)
-2,50 (<;)
- 4,33 (7)
Zum ersten Male wird von dem Begriff „Kältesumme“ wohl von Weyprecht (8) Gebrauch ge
macht. ln seinem Bericht über die Oesterr.-Ung. Arktische Expedition 1872/74 setzte er die Summe
der mittleren (negativen) Tagestemperaturen in Beziehung zur Mächtigkeit des Eises. — Erst im Jahre
1906 (9) taucht der Begriff, nachdem ihm bis dahin offenbar keine Bedeutung beigemessen worden
war, bei der Beschreibung der Eisverhältnisse au der deutschen Küste während des Winters 1903/06
(Castens) wieder auf und wird von nun an seitens des dänischen Meteorologischen Instituts Kopen
hagen (10) laufend für die Charakterisierung der dortigen Winter benutzt. Vom rein meteorologi
schen Standpunkt aus haben endlich Hellmann (11) (s. S. 20) und in etwas abgewandelter Form auch
Koppen (12) die Kältesumme zum Gegenstand ihrer Arbeiten gemacht.
1) 2) Hann, Handb. d. Klimatologie (1911) 3. B. 2. Teil. S. 193.
3) 4) 5) 6) ebenda, S. 218.
7) ebenda, S. 248.
8) Weyprecht, Die Metamorphosen d. Polareises. Wien. 1879. S. 134.
9) Die Eisverhältnisse an der deutschen Küste l c '05/06. Ami. d. Hvdr. 1906. S. 327.
10) N. M. A. 1906. S. LII. Tab. 2. u. alle folg. Jahrg.
11) Hell mann, Ueb. strenge Winter. Sitzungs-Ber.
12) Koppen, Ueb. d. Periodizität strenger Winter. Ann. d. Hvdr. 1930. S. 58.