Archiv 1902. 2.
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No. íí.
Ueber eine neue „kimmfreie“ astronomische Standlinie.
Von Dy. phil. Carl W. Wirtz,
Observator der Kaiserlichen Sternwarte in Strassburg i. E.
§ l.
In zwei früheren Arbeiten*) sind die beiden Aufgaben behandelt: aus den Höhendifferenzen dreier
Sterne eine vollständige Ortsbestimmung in die Wege zu leiten, und: eine Höhendifferenz bei bekannter
Polhöbe zum Zweck einer Zeitbestimmung oder Chronometer-Kontrole auszunutzen. Um die Entwickelung
einer nur auf Höhendifferenzen gegründeten nautischen Astronomie abzuschliessen, erübrigt es noch zu zeigen,
wie man, wenn weder Zeit noch Breite scharf bekannt, sondern nur ein verlässliches Chronometer zur Ver
fügung steht, zu einer Höhendifferenz den geometrischen Ort anzugeben vermag, auf welchem das Schiff im
Moment der Beobachtung sich befunden haben muss; man hat also diejenige Kurve auf der Erdoberfläche
zu untersuchen, die alle Punkte enthält, für welche zwei Sterne in einem gegebenen Augenblick den gleichen
Höhenunterschied aufweisen. Während nun die analoge Frage bei der Betrachtung einer absoluten Höhe
sich einfach dahin beantwortet, dass der geometrische Ort aller Punkte, an denen zu gegebener Zeit eine
gegebene Höhe existiré, der Sumner’sche Kreis oder die sog. Höhengleiche sei, Hegen für unsere hier zu
diskutirende Standlinie nicht ganz so einfache geometrische Beziehungen vor.
Auf die Vorzüge, welche die Einführung der Höhendifferenz als Beobachtungselement in instrumenteller
Hinsicht darbietet, ist schon in den „Annalen etc.“, Heft VII, pag. 324, ausführlich hingewiesen (vollständiger
oder theilweiser Fortfall der Unsicherheiten in Augeshöhe, Indexkorrektion, Spiegel- und Fernrohrneigung,
Exzentrizität, Refraktion und Theilung). Hier sei kurz die Bedeutung rekapitulirt, die ihr in der Nähe der
Küste zukommt. Da gerade unter Land Anomalien der Kimm die grösste Gefahr in sich bergen und auch
am häufigsten auftreten, so kann dort eine absolute Höhe eine um 10 bis 15 Seemeilen aus ihrer wahren
Lage verschobene Standlinie liefern, eine Versetzung, die unter Umständen verhängnisvoll werden kann.
Demgegenüber fällt aber aus einer Höhendifferenz das Ilauptglied jener Kimmanomalie heraus und man er
langt somit auf diesem Wege eine von systematischen Fehlern fast freie Standlinie, ein Umstand, den ich
der Kürze wegen durch die Bezeichnung der Standlinie als „kimmfrei“ wiedergebe.
Eine eingehende und erschöpfende Darstellung des Charakters und Verlaufs der neuen „kimmfreien“
Standlinie würde die Hülfsmittel der elementaren Mathematik übersteigen und daher hier nicht am Platze
sein. Die vorliegenden Zeilen beschränken sich vielmehr darauf, zunächst (in § 2) unter Voraussetzung der
streng kugelförmigen Erdfigur das allgemeine Verhalten der Kurve durch leichte geometrische Betrachtungen
plausibel zu machen und durch Uebergang auf einige Spezialfälle dem Verständniss näher zu bringen. Im
folgenden Paragraphen schliesst sich eine elementare Lösung an, die zeigt, wie man ein kleines Stück der
*) „Ueber ein Problem der sphärischen Astronomie und seine Bedeutung für die Nautik“, Annalen der Hydrographie
und maritimen Meteorologie, 1901, Heft VII (S. 323).
„Zeitbestimmung und Chronometerkontrole durch eine Höhendifferenz“, ebenda, Heft VIII (S. 372).