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über
die Erforschung* der freien Atmosphäre mit Hülfe von Drachen.
Im Aufträge der Direktion der Seewarte erstattet von Professor Dr. W. Hoppen.
I. Technischer Theil.*)
1. Abschnitt.
Das Studium der freien Atmosphäre, die Entwickelung der meteorologischen Drachenversuche
und die Drachenstation der Seewarte.
Gipfelstationen und Ballons. Die Jahre 1893 — 95 bilden einen neuen Ausgangspunkt in der
Meteorologie, dessen Wirkungen sich nach und nach immer mehr fühlbar machen werden, eine wichtige
Etappe in dem Uebergang dieser Wissenschaft aus einer Kunde von der untersten Luftschicht in eine solche
von der ganzen Atmosphäre. Vorbereitet war dieser Uebergang vor allem durch die Ballonfahrten von
Welsh und Glaisher (1852—09) und die Gründung zahlreicher Gipfelstationen, zu der besonders der
Wiener meteorologische Kongress (1873) den Anstoss gab. Die Jahre 1893—95 aber brachten uns zwei
neue Hülfsmittel von weitgehendster Verwendbarkeit für dieses Studium: den Drachen und den unbemannten
Freiballon (ballon sonde), die beide dazu bestimmt sind, die gleichzeitig erfundenen leichten meteorologischen
Registrirapparate in die freie Atmosphäre emporzutragen; und in denselben Jahren spielte sich auch der
Haupttheil der grossartigen Reihe der Berliner Ballonfahrten ab, durch die unsere Auffassung von der verti
kalen Temperatur-Vertheilung in der freien Atmosphäre auf eine neue Grundlage gestellt wurde. Dass die
Wirkung dieser Fortschritte auf die Umgestaltung der Meteorologie nur eine langsame ist, und dass ins
besondere die Ausnutzung derselben für die Wetterprognose noch nicht ohne weiteres möglich ist, darf nie
mand wundern, da es ein grosses und schwieriges Feld zu bearbeiten gilt, ehe die Früchte davon geerntet
werden können. Die Ueberzeugung aber von der Wichtigkeit des so eröffneten Arbeitsfeldes und der Wunsch
mitzuwirken, wird wohl an allen meteorologischen Anstalten der Welt vertreten sein und sicherlich die in
dem Mangel an Geldmitteln und Kräften liegenden Hindernisse bald besiegen.
Denn in der That, der Gang der gewaltigen Maschine, die wir als Erdatmosphäre bezeichnen, spielt
sich in Vorgängen ah, die zum grossen Theile hoch über unsern Köpfen verlaufen. Die Meteorologie war
aber anfangs, und ist zum Theil noch jetzt, auf die Untersuchung der untersten Luftschicht allein an
gewiesen. Von dieser aus suchte sie mit Kühnheit die Gesetze des Ganzen zu erschlossen und befand sich
dabei in der Lage eines Menschen, der den Zusammenhang einer mächtigen Dampfmaschine enträtliseln
will, von der er nur einige langsam gehende Räder am Aussenrande und Nebenventile sehen kann. Es ist
der Ueberblick über das Ganze, dessen wir zur richtigen Auffassung auch der Einzelheiten vor allem be
dürfen; diesen Ueberblick können wir aber mit noch so vielen Stationen nicht gewinnen, wenn wir an der
Erdoberfläche kleben bleiben.
Seit Dezennien ist denn auch die Sehnsucht der Meteorologen darauf gerichtet, einen ähnlichen Ueber
blick, wie wir ihn heute alltäglich über die Vorgänge am Grunde des Luftmeeres erhalten, auch für die
höheren Schichten desselben zu gewinnen. Aber so wcrthvolle Aufschlüsse die Meteorologie dem Luftballon
auch verdankt, so musste diese Sehnsucht doch ein unerfüllbarer Traum bleiben, so lange die hohen Kosten
und die Umständlichkeit des Ballonbetriebes diese Aufschlüsse auf ganz vereinzelte Orte und Zeitmomente
*) Die meteorologischen Ergebnisse werden den Gegenstand eines zweiten, späteren Berichtes abgehen.
Archiv 1901. 1-
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