W. Koppen: Erforschung der freien Atmosphäre mit Hülfe von Drachen.
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noch in Hamburg habe ich Nanzuk-Stoffe in lebhafter Farbe erhalten können; auch das nachträgliche
Färben derselben hat erhebliche Schwierigkeiten gemacht. Rother Kattun ist viel zu schwer; besser ist
rother Satin, der aber immerhin 84 g pro qm wiegt und dessen geringe Breite (80 cm) manchmal unnöthige
Käthe oder viel Abfall bedingt.
6. Abschnitt.
Verbindung des Drachens mit dem Erdboden.
a) Die Ducht. Mit dem Namen Bucht oder Zügel (bridle der Anglo-Amerikamer) wird die Ver
zweigung der Leine*) bezeichnet, mittels welcher sie an den Drachen befestigt zu werden pflegt. Ein ge
wöhnlicher Drache kann nicht ohne Bucht fliegen, von der mindestens ein Zweig näher zum Kopfende und
einer näher zum Schwanzende des Drachens befestigt sein muss. Die Bucht liefert eine automatische Selbst
regulirung und zwar in folgender Weise (Fig. 54): seien AB der Drache, W, G und L die auf ihn wirkenden
Kräfte des Winddrucks, der Schwere und des Zuges der Leine, so kann der Drache nur im Gleichgewicht
sein, wenn das Moment dieser drei Kräfte sowohl in bezug auf Drehung, als auf Verschiebung des Drachens
Null ist. Da nun aber der Punkt, an dem der Winddruck ansetzt, offenbar fortwährenden kleinen Schwan
kungen ausgesetzt ist, so muss auch der Angriffspunkt des Zuges der Leine sich verschieben können, um
das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Dies wird nun in einfacher Weise durch die Bucht erreicht. Wirkt
der Zug der Leine, statt direkt auf den Punkt F, auf eine Schnur, die in irgend einer der durch Punkte
auf der Figur bezeichneten Weise vor dem Drachen ausgespannt ist, so wird durch eine kleine Drehung des
Drachens oder der Leine um den Verzweigungspunkt (den „Buchtpunkt“) die Stellung beider zu einander
so weit geändert, dass der Zug der Leine wieder den Drachen in dem Punkte schneidet, wo er angreifen
muss, um die verschiebende und drehende Wirkung der übrigen Kräfte aufzuheben. Dabei kann man, wie
die Erfahrung zeigt, sowohl den Verzweigungspunkt längs dieser Druckachse L, als die Anheftepunkte der
Schnüre längs der Linie AB innerhalb weiter Grenzen verschieben, ohne die Stabilität des Drachens zu
beeinflussen.
Bei den heute für Hochaufstiege verwendeten Drachen liegen aber die Dinge ziemlich anders. Da beim
Hargrave-Drachen der Angriffspunkt des Winddrucks nicht in derselben Ebene mit der Befestigung der Leine
liegt, sondern hinter resp. über ihr, zwischen der unteren und der oberen Fläche des Drachens, so kann
die erwähnte Selbstregulirung hier auch ohne Bucht, durch blosse Aenderung des Winkels zwischen Leine
und Drachen geschehen. In der oft erwähnten Veröffentlichung Prof. Marvin’s aus dem Jahre 1896 wird
zwar auch bei diesen Drachen an der Befestigung an zwei Stellen der Längsachse des Drachens festgehalten
und in Russland ist dieses auch heute üblich. Allein Hargrave befestigt die Leine nur an einem festen
Punkte der Unterseite seines Drachens und wenn die Drachen des Washingtoner Amtes und des Blue Hill-
Observatoriums heute noch an zwei Punkten der Längsachse gefesselt sind, so hat dieses einen andern Zweck,
denn bei ersterem ist stets, bei letzterem zum guten Theil nur der eine Zweig gespannt, der andere hängt
lose, bereit, bei zunehmender Windstärke an die Stelle des ersteren zu treten, wie wir weiter unten sehen
werden.
Zuvor wollen wir noch eine andere Aufgabe der Bucht erwähnen: man kann durch sie das Gestell des
Drachens gegen den Druck des Windes stützen und infolge dessen eventuell leichtere Stäbe nehmen, die
dem Winddruck ohne solche Unterstützung nicht gewachsen sein würden. Bei den Hargrave-Drachen, die
durch die festen Verstrebungen hinreichenden Halt haben, spielt diese fernere Unterstützung durch die Bucht
keine grosse Rolle: die Diagonaldrähte bilden gewissermaassen eine innere Bucht. Doch ist die elastische
Bucht der neuesten 8 qm Tragfläche messenden Drachen vom Blue Hill durch drei Schnüre, eine zum Mittel-,
zwei zu den Seitenstöcken, gebildet. Die Sicherheit, dass das Gestell nicht etwa durch stürmischen Wind
während des Fluges zerbrochen werde, mit Hülfe von Zweigleinen der Bucht zu erhöhen, dem steht auch
bei den Hargrave-Drachen nichts im Wege, wenn auch zu so komplizirten Buchten, wie sie z. B. in den
Illustr. Aeronaut. Mittheil. 1899, S. 15, von den russischen viereckigen Militärdrachen beschrieben werden
*) Seemännisch heisst eine solche Verzweigung eine Hahnepot,. In Hamburg ist der Ausdruck „Bucht“ bei Drachen
der allein gebräuchliche.