W. Koppen: Erforschung der freien Atmosphäre mit Hülfe von Drachen.
47
Auch Lamson’s Drache ist nach Hargrave’s Prinzip eine Verbindung von Tragflächen und vertikalen
Flächen, die in zwei „Zellen“ hintereinander angeordnet sind. Allein die Form und relative Grösse dieser
Flächen ist eigentümlich, wie man aus Fig. IV, Tafel 2, erkennt, der Kopie einer vortrefflichen Photographie,
die ich der Güte des Herrn Teisserenc de Bort verdanke. Der dargestellte Drache ist auf dessen Privat-
Observatorium zu Trappes (S. et Oise) gebaut. Herr Teisserenc de Bort schreibt mir am 2. Februar 1899:
„Je considère ce genre de cerf volant comme très bon. Un seul de ces cerfs volants m’a porté à 1800 m
un enregistreur — soit environ 13 kg, sans compter le poids du cerf volant. Vous pouvez construire ces
cerfs volants de façon qu’il ne pesait que 650 à 700 grammes par mètre carré. La partie délicate de ce
modèle est dans le bras inférieur qui cassait facilement sous l’effet du vent; il faut soit la faire un peu
solide, soit la consolider par une traverse AB*) qui la empêche de plier. J’emploi d’ordinaire les Hargraves
plus faciles à construire et qui vont très bien.“
Ein besonders wesentlicher Zug dieses Drachens, dem er seine Benennung „aero-curve“ verdankt, sind
die gekrümmten Längsrippen, durch die die beiden vorderen Segel eine gewölbte Form erhalten. Wenn ich
nicht irre, so war Herr Lamson der erste, der diese annähernd starre Wölbung, wie sie nach Lilienthals
Vorgang Clianute, Langley u. A. an ihren Flugmaschinen anwenden, bei Drachen einführte, und ist Hargrave
erst später auf diesen Punkt eingegangen. Bis dahin hatte man den Nutzen der Wölbung zwar auch bei
Drachen wohl festgestellt, aber ihre Hervorbringung dem Winde überlassen und sich begnügt, das Zeug an
der richtigen Stelle lose zu lassen, damit es sich aufblähen könne.
D. Nikel-Drache. Der Drache, den ein Mitglied des Wiener Flugtechnischen Vereins, Herr Ingenieur
Nikel, nach dem Muster des Drachenfliegers von Kress erbaut und am 19. August 1898 zuerst probirt hat,
theilt mit dem Hargrave-Drachen das Prinzip der Zertheilung der Fläche, hat aber alle tragenden Flächen
im Ruhezustand in einer Ebene, statt in mindestens zweien, wie der letztgenannte Drache. Dadurch hat
er, wie Fig. Va es zeigt, eine unbequem grosse Länge, und vermag die vertikalen Steuerflächen nicht als
Verbindungsstücke zwischen beiden Drachenflächen, sondern nur als besonderes Steuer am hinteren Ende
zu tragen. Dieses würde wohl kaum ausreichen, ihn stabil zu machen, wenn nicht die einzelnen Flügel,
wie die Figur es zeigt, im Winde stark zurückgebogen würden, so dass der Drache dem Malay-Draclien in
bezug auf die Stellung der Tragflächen ähnelt. Der in Fig. Va und b, Tafel 2, abgebildete erste Drache
dieser Form hatte eine Länge von 8 m, eine Breite von 4 m und eine Gesamtfläche von 12.2 qm, die aus
6 Flügelpaaren bestand; sein Gewicht betrug 7‘/2 kg, also 0.61kg pro qm. Jedem dieser Flügel dient als
Rahmen eine gebogene Weidenruthe, die seinen vorderen Rand bildet; sein hinterer Rand ist frei, nur in
seiner Mitte durch ein Band nach dem folgenden Flügel hingezogen. Unter dem Winddrucke heben sich
die Flügel jalousieartig von einander ab, wie Fig. Vb erkennen lässt; das ist wohl die Ursache dafür, dass
die Flächen bei diesem Drachen so viel näher hintereinander liegen können, als beim Hargrave-Drachen,
was die Unbequemlichkeit ihrer Anordnung in einer Ebene mildert; immerhin verlangt ein Drache von 8m
Länge einen recht grossen Aufbewahrungsraum. Genauere Angaben über das Verhalten des Drachens fehlen
noch. Die enthusiastische Schilderung, die der Erfinder in der „Leipziger Illustrirten Zeitung“ und den
„Illustr. Aeronaut. Mittheilungen“, Januarheft 1899, gegeben hat, wird bestätigt durch einen Brief von Herrn
Direktor Dr. Pernter, der mir unterm 18. Oktober 1898 schrieb: „Das Probemodell hatte 15 qm Fläche
und bewährte sich ausserordentlich, grandios. Ich liess daraufhin sofort einen Drachen dieses Systems von
22 qm Fläche konstruiren, der im November fertig werden soll.“ Die Erwartungen scheinen sich indessen
bis jetzt nicht bestätigt zu haben, wahrscheinlich weil das damals nur bei schwachen Winden probirte Modell
sich in grösseren Windstärken als allzu biegsam erwiesen hat. Marvin, Fergusson, Rotch und Teisserenc de
Bort (mündlich), sie alle verlangen wohl mit Recht von einem Drachen für hohe Aufstiege möglichste Starr
heit, da Stangen, die sich biegen, dies sehr selten gleichmässig thun, und dadurch die Symmetrie des
Drachens unter starkem Druck gestört wird. Auch die Drachen der Seewarte w r aren nicht stabil, so
lange ich sie biegsam bauen liess. Biegsamkeit des Gestells hätte für Drachen manche Vortheile — be
sonders ist da die geringere Zerbrechlichkeit und bessere Zusammenlegbarkeit anzuführen — aber der ge
nannte Umstand nöthigt uns, diese Eigenschaft für die wesentlichen Theile des Drachens auszuschliessen.
E. Der Treppendrache weicht von allen mir bekannten Drachentypen darin ab, dass er die beim
NikePschen Drachen anscheinend unabsichtlich nur unter dem Druck des Windes auf ein biegsames System
*) Die Querstange, an der auf Fig. IV die beiden Männer den Drachen emporlieben.