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Ans dem Archiv der Deutschen Seewarte — 1901 No. 1 —
Hargrave selbst hat sich zwar gegen diese Bauart ausgesprochen („Tliis style appears to me barbaric“,
sagt er im Aeron. Journal, Juli 1899, S. 50); aber für Hochaufstiege mit meteorologischen Instrumenten ist
zur Zeit dieses in seinen Hauptzügen auch auf dem Blue Hill und in Trappes angenommene System das
einzige ausreichend erprobte, während Hargrave selbst seine Drachen nie in grosse Höhen emporgelassen
hat; zudem sind Originaldrachen von Hargrave zur Zeit, soviel mir bekannt, ausser bei ihm selbst, nur in
der „Aeronautical Society“ in London vorhanden,*) während solche der amerikanischen Variante seines
Systems in Europa sowohl in Original-Exemplaren oder Modellen vom Blue Hill und aus Washington, als
in bewährten Nachbildungen an mehreren Stellen vorhanden sind. Beim Drachenbau kommt es aber auf
so viele schwer zu beschreibende Kleinigkeiten an, dass man gewärtig sein muss, sehr viel Zeit und Mühe
zu verschwenden, wenn man ohne ein gutes Muster oder eigene Erfahrungen den Bau meteorologischer
Drachen beginnt.
Eine andere Variante des Hargrave-Systems, die von den Herren Potter und W. H. Smith in Nordamerika
ausgebildet worden ist (vergl. Illustr. Aeronaut. Mittheil., 1899, S. 85), hat seit vorigem Jahre in Hamburg
als Spieldrache Verbreitung gefunden: ein Prisma von quadratischem Querschnitt, das an einer seiner Kanten
etwas oberhalb des hinteren Randes der Vorderzelle an die Leine gefesselt ist; die Länge beider Zellen ist
gleich, die des freien Zwischenraums etwa 50% grösser. Der Rahmen besteht aus vier Längshölzern, die
die Kanten bilden, und vier federnden Querhölzern, deren je zwei in jeder Zelle ein Kreuz bilden; an ihren
Enden haben sie Einschnitte, die beim Einschieben in Einschnitte der Längsstöcke einspringen. Das ganze
hat ziemlich viel Steifigkeit, besonders wenn man die beiden Kreuze nach aussen wölbt und ihre Mitten
durch einen Bindfaden mit einander verbindet. Nach Herausnahme der Querhölzer lässt sich der Drache
zu einem bequemen Packet zusammen rollen. Fig. 32 A stellt ihn zusammengerollt, Fig. 32 B im Fluge dar.
Eine interessante Kombination dieser quadratischen Prismen hat in letztem Sommer Herr Willi. Trappe
in Hamburg gefunden, indem er 2 bis 7 derselben mit ihren Randleisten zusammen bindet und ihre Halte-
sclmüre zu einer Bucht vereinigt, wie es Figur 32 C im Querschnitt eines solchen Zellen-Systems aus fünf
Drachen zeigt. Dieses eigenthümliche, 2'/2 ni breite und nur 80 cm lange Gebilde, das am Himmel als
schmales buntes Band erscheint, fliegt überraschend stabil und steil.
Die Zellendrachen des Blue Hill-Observatoriums unterscheiden sich von jenen des U. S. Weatlier Bureaus
wesentlich nur durch die Wölbung ihrer tragenden Flächen und durch die elastische Bucht. Ueber die
letztere berichten wir weiter unten. Für die Krümmung der Flächen wurden Hargrave’s neuere Resultate
zu Grunde gelegt, wonach unter einer Wölbung, deren höchster Punkt nur V 3 oder % ihrer Länge vom
vorderen Rande entfernt ist und deren Tiefe etwa 4 /to ihrer Länge beträgt, wenn sie vom Winde unter
spitzem Winkel getroffen wird, ein Luftwirbel von der auf Fig. 20 dargestellten Art entsteht, durch den die
Platte zum Schweben gebracht wird. Dass der Hub bei gewölbten Flächen bedeutend grösser ist, als bei
ebenen, hat bekanntlich bereits vor Jahren Lilienthal nachdrücklich hervorgehoben. Nach Hargrave ist es
indessen zur Bildung des hebenden Wirbels erforderlich, dass die grösste Tiefe der Wölbung nahe an ihrem
vorderen Rande und dass dieser Theil derselben starr sei. An den neueren Drachen des Blue Hill-Obser
vatoriums wird deshalb das Gewölbe bis zu seinem höchsten Punkt aus einer dünnen Platte von Fournier-
liolz, an denen zu Berlin-Tegel aus Stahlblech gemacht.
Aus den Detail-Photographien, die ich der Güte des Herrn Ilotch verdanke, erkennt man, dass diese
Platte an jedem der vier Segel durch hakenförmige Holzstücke von der Form (Fig. 33) an dem Gerüst des
Drachens festgehalten wird. Der obere schräge Stock dieser Zeichnung findet sich nur an den vier Längs
kanten des Drachens; die je drei mittleren Haken des Segels tragen keinen solchen Stock. Ein im Blue
Hill-Bulletin N0. 3 von 1899 beschriebener Drache hat solche Gewölbe nur an drei von den Segeln, das
obere Segel der hinteren Zelle aber ist platt und sein hinterer Rand um 10° gehoben, um den Drachen zu
verhindern, sich horizontal zu legen. Dagegen sind an dem Drachen, den die oben erwähnten neueren
Photographien darstellen, alle vier Segel in dieser Weise gewölbt. Die Gesamtansicht dieses Drachens giebt
Fig. III, Taf. 2. Nach der Mittheilung des „Bulletins“ fliegen diese Drachen, in gutem Winde bei kurzer
Leine, unter einem mittleren Höhenwinkel von 62°, während der bis dahin beste Drache des Blue Hill,
Lamson’s sogleich zu beschreibender „Aerocurve“, 58° ergab.
*) Es ist leider weder der Seewarte, noch dem Preuss. Meteorol. Institut gelungen, einen Originaldrachen von Har
grave wenigstens leihweise sich zu verschaffen. Die Anfrage der Seewarte in London ist unbeantwortet geblieben.