Archiv 1S96. 4.
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No. 4.
Aerodvnamiseine Theorie der* Grewitter.
Von E. Enselenlmrg. C. I.,
vormals Direktor (ies König!. Nieder!. Meteorolog. Observatoriums in Utrecht.
(Die arabischen Zahlen hinter den Namen im Texte beziehen sieh auf die Bemerkungen im Anhänge.)
I. Historischer Ueberblick der Gewittertheorien.
Die Entdeckung der elektrischen Natur des Blitzes schwebte ungefähr in der Mitte des achtzehnten
Jahrhunderts nicht nur thatsächlich, sondern auch figürlich in der Luft. Bei den Naturphilosophen dieser
Periode ist die Vergleichung des Blitzes und Donners mit dem elektrischen Funken keineswegs selten. Das
Verdienst, Gewissheit verschafft zu haben, gebührt ohne Zweifel dem genialen „common-sense“ des Buch-
drucker-Politicus Franklin, ungeachtet es kurze Zeit vor Franklin’s bekannter Drachen-Probe d’Alibard
zuerst gelang, zu Marly in der Nähe von Paris beim Herannahen eines Gewitters aus dem Unterende einer
vertikal gestellten eisernen Stange elektrische Funken zu ziehen (10. Mai 1752). Die grosse Aufmerksamkeit,
welche die Elektrizität im allgemeinen und diese Experimente im besonderen auf sich zogen, war die Ursache,
dass die Physiker an vielen Orten mit zahlreichen kleinen Abänderungen Stangen- und Drachen - Proben
wiederholten. Welchen Gefahren sie sich während dieser Experimente aussetzten, zeigte der tragische Tod
liichmann’s in St. Petersburg, und dennoch waren diese nicht imStande, den Eifer abzukühlen. Diese
mannigfach wiederholten und variirten Experimente zeigten bald, dass nicht nur während eines Gewitters,
sondern zu jeder Zeit die gasförmige Hülle der Erde elektrische Eigenschaften zeigt. Seitdem unterscheidet
man: a) die atmosphärische Elektrizität, d. h. die schwachen elektrischen Erscheinungen, welche elektro-
skopische Instrumente in der freien Luft fast immer anzeigen; b) die Gewitter - Elektrizität, nämlich die
enormen elektrischen Spannungen, welche sich während eines Gewitters in den verschiedenen Formen des
Blitzes gegenseitig neutralisiren. In Folge davon sind die Hypothesen, welche die Elektrizität der Atmo
sphäre zu erklären versuchen, iu drei Gruppen einzutheilen:
1) die, welche die Ursache sowohl der atmosphärischen als der Gewitter-Elektrizität zu erklären
versuchen,
2) die, welche dieses ausschliesslich für die Gewitter- oder
3) für die atmosphärische Elektrizität versuchen.
Nur auf die beiden ersten Arten wollen wir in den folgenden Blättern unsere Aufmerksamkeit lenken.
Franklin 1 ) selber scheint sich nur ziemlich wenig um den Ursprung der Elektrizität bekümmert zu
haben. Von seinem unitarischen Standpunkte betrachtet er die Erde mit allen lebendigen und leblosen Ge
schöpfen mit gerade so viel Elektrizität erfüllt, als sie enthalten können; dieses nennt er ihre natürliche
Quantität. Wenn jedoch einem von ihnen mehr Elektrizität zugefügt wird, so breitet sich diese über
die ganze Oberfläche aus und solch ein Körper zeigt elektrische Eigenschaften. Wenn nun eine gewisse
Wassermasse mit der natürlichen Quantität Elektrizität versehen in Dampf oder Wolkenform übergeführt
wird, so ist sie fähig, eine viel grössere Menge Elektrizität zu umfassen, ebenso wie ein zusammengepresster,
mit Wasser durchzogener Schwamm eine viel grössere Wassermenge aufnehmen kann, wenn er aus dem zu
sammengedrückten Zustande befreit wird. Eine Wolke hat also weniger als ihre natürliche Quantität; sie
ist in einem negativen Zustande der Elektrizität; kommt sie nun nahe genug an die Erde, so empfängt sie
von dieser in einem Blitzstrahle Elektrizität. Eine Wolke, welche auf diese Weise von der Erde mit Elek
trizität versehen ist, kann Blitzstrahlen aussenden nach anderen Wolken, welche nicht mit Elektrizität ver
sehen sind.