Adolf Schmidt: Mathematische Entwickelungen etc.
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Eine vollständige Kenntniss der hypothetischen Ströme an jedem Punkte der Erdoberfläche würde
gewonnen werden, wenn die Werthe der horizontalen Komponenten überall bekannt wären. Dagegen sind
mit der Kenntniss der Ströme keineswegs umgekehrt die von ihnen ausgeübten Kräfte gegeben. Der Grund
hiervon ist, dass wir die Kräfte, welche von Stromelementen ausgehen — und nur letztere sind uns hier
bekannt — garnicht kennen; wir sind nur im Stande, die Wirkung geschlossener Ströme zu berechnen.
Nun kann man sich aber die durch die Erdoberfläche hindurchtretenden Elektrizitätsmengen auf unendlich
mannigfaltige Weise im innern und äussern Raume so fortgeführt denken, dass geschlossene Ströme ent
stehen, und jeder dieser verschiedenen Möglichkeiten entspricht ein anderes Kräftesystem auf der Erdober
fläche. (Dass überhaupt geschlossene Ströme möglich sind, hat zur Voraussetzung, dass die Summe der
in jedem Zeittheilchen von innen nach aussen fliessenden Elektrizitätsmengen gleich der Summe der ent
gegengesetzt strömenden ist. Dies ist nun in der That der Fall, wie man nicht nur durch allgemeine
Erwägungen, sondern auch durch Integration der Gleichung (B) findet.) Es könnte daher auch geradezu
das wirklich beobachtete System der Horizontalkräfte gänzlich als eine Wirkung von Strömungen angesehen
werden, deren die Erdoberfläche durchbohrende Elemente wir allein kennen. Bei dieser Auffassung würden
wir somit für keinen Theil der erdmagnetischen Kraft, an der Oberfläche der Erde wenigstens, ein Potential
annehmen. Nun wird aber durch die Einführung des Potentials die Theorie ausserordentlich vereinfacht,
und deshalb werden wir die vorhandene Unbestimmtheit gerade umgekehrt dazu benutzen, einen möglichst
grossen Theil der magnetischen Horizontalkraft auf ein Potential zurückzuführen. Wir werden uns mit
anderen Worten die etwaigen durch die Erdoberfläche dringenden Strömungen so geschlossen denken, dass
ihre magnetischen Wirkungen in dieser Fläche möglichst gering werden. Nach den bisherigen Beobach
tungen und Potentialberechnungen zu schliessen, werden sich diese Wirkungen, wofern sie sich nicht über
haupt als verschwindend herausstellen, auf ein System sehr kleiner magnetischer Kräfte reduziren lassen.
Durch Subtraktion derselben von den viel grösseren, thatsächlich beobachteten Kräften würde sich alsdann
der durch ein Potential darstellbare Haupttheil dieser letzteren ergeben. Wie weit dieser von magnetischen
Massen oder geschlossenen elektrischen Strömen innerhalb, wie weit er von solchen ausserhalb der Erde
herrührt, das lässt endlich, wie schon mehrfach erwähnt wurde, die Untersuchung der vertikalen Kompo
nente erkennen.
Die Gesichtspunkte, unter denen die Bearbeitung des Beobachtungsmaterials zu erfolgen hat, sind in
den vorhergehenden Betrachtungen dargelegt. Die wirkliche Ausführung kann nun aber noch in ver
schiedener Weise erfolgen. Im wesentlichen sind zwei Methoden denkbar, die im einzelnen noch manche
Modifikationen erfordern, je nachdem die Beobachtungsdaten sich auf einzelne Punkte oder auf mehrere
Parallelkreise beziehen.
Die erste Methode setzt die Existenz eines Potentials voraus. Dasselbe wird in eine nach Kugel
funktionen fortschreitende Reihe entwickelt gedacht. Die Koeffizienten derselben bilden die gesuchten
Unbekannten. Aus dem Potentialausdruck ergeben sich Reihen für die einzelnen Komponenten der Kraft.
Durch Einsetzung der Beobachtungsergebnisse in diese Reihen erhält man zahlreiche lineare Gleichungen
für die Unbekannten, deren Werthe schliesslich durch eine Ausgleichungsrechnung mittels der Methode der
kleinsten Quadrate gefunden werden. In dieser Weise ist das Problem bisher behandelt worden.
Das Charakteristische der zweiten Methode besteht darin, dass zunächst für jede einzelne Komponente
eine analytische Darstellung ihrer Werthe auf der ganzen Erdoberfläche abgeleitet wird, worauf die weitere
theoretische Entwickelung an die drei so erhaltenen Darstellungen anknüpft.
Ich beschränke mich in den folgenden Darlegungen auf diese zweite Methode. Die andere bedarf, da
sie allen bisherigen Arbeiten zu Grunde liegt, keiner Erläuterung, und die Abänderungen, welche durch die
Berücksichtigung der Erdabplattung nothwendig werden, sind unbedeutend und durch die Bemerkungen am
Anfang dieses Abschnitts genügend bezeichnet. Vor allen Dingen aber sprechen mehrere Gründe dafür,
dass in Zukunft stets der zweite Weg eingeschlagen werde. Derselbe ist nicht nur kürzer und bequemer
als der erste, weil er im allgemeinen die Anwendung der Methode der kleinsten Quadrate vermeidet; er
ist auch in theoretischer Hinsicht vorzuziehen. Die Annahme der Existenz eines Potentials wird vermieden,
und die etwa zwischen den einzelnen Komponenten unter dieser Annahme bestehenden Widersprüche werden
nicht durch eine Ausgleichungsrechnung verdeckt, sondern auf ihre physikalischen Ursachen zurückgeführt.
(Nachträglich auf Grund der Differenzen zwischen Beobachtung und Rechnung könnte dies allerdings auch
bei der ersten Methode geschehen.)
Archiv 1889. 8.
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