Adolf Schmidt: Mathematische Entwickelungen etc.
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Zone so gut wie nichts. Insbesondere aber fehlt noch viel an einer auch nur annähernd zuverlässigen
Kenntniss der säkularen Aenderungen. Indessen diese Mängel lassen sich doch durch eine zweckmässige,
kritische Verwerthung des sicher Bekannten zum grossen Theil unschädlich machen. Die über den Betrag
der säkularen Variationen herrschende Unsicherheit ist von geringem Einfluss, wenn man nur solche
Beobachtungen benutzt, die der Normalepoche nahe liegen. Freilich kann man nicht immer solche Ent
haltsamkeit üben; in Gebieten, aus denen keine neueren Bestimmungen vorliegen, wird man auch die
älteren Messungen nach vorsichtiger Untersuchung verwerthen müssen. Indessen kann doch gegenwärtig
der Forderung möglichster Gleichzeitigkeit der zu benützenden Beobachtungen schon in weit höherem
Grade Rechnung getragen werden, als dies in früherer Zeit möglich war. Und was zweitens die grossen
Lücken des Beobachtungsnetzes betrifft, so bietet ja gerade die Potentialtheorie das zuverlässigste Mittel,
dieselben interpolatorisch auszufüllen, und daher wird gerade diese Theorie weniger durch solche Lücken
gestört als jede andere Betrachtungsweise. Man wird diese Behauptung ohne eingehendere Begründung
einleuchtend finden, wenn man sich erinnert, dass zur Berechnung des Potentials streng genommen schon
die Kenntniss der magnetischen Elemente an einer geringen Anzahl von über die Erdoberfläche vertheilten
Punkten hinreichend ist. Die Differenzen zwischen den beobachteten und berechneten Werthen würden
nach Ausfüllung der jetzt noch bestehenden Lücken wahrscheinlich nur in den von diesen eingenommenen
Gebieten merklich herabgedrückt werden, in den jetzt schon genügend erforschten Gegenden dagegen wenig
geändert, stellenweise wohl gar etwas vergrössert erscheinen. (Ein Vergleich der Gaussischen und der
Er man -Pete rsen’ sehen Rechnung liefert eine gute Bestätigung dieser aus mathematischen Gründen
entspringenden Vermuthung.) Aus den vorstehenden Betrachtungen folgt, dass die N e u m ay er’sehe
Potentialbestimmung trotz mancher gegenwärtig noch nicht zu vermeidenden Unvollkommenheiten der
empirischen Grundlage unzweifelhaft ein im allgemeinen zutreffendes Bild von der erreichten Annäherung
der Theorie an die Erfahrung darbietet. Eine weitere Bestätigung hierfür liefert der Umstand, dass die
unerklärten Abweichungen nicht regellos auftreten, sondern in ihrer Vertheilung über die Erdoberfläche
eine deutlich ausgeprägte, nicht übermässig verwickelte Gesetzmässigkeit erkennen lassen. Die von Herrn
Neumayer, der damit als erster einer von Gauss gegebenen Anregung folgte, als Schlussstein seines
Werkes konstruirten Differenzenkarten für die einzelnen Elemente, welche in vereinfachter Darstellung auch
dem Abdruck seines Vortrages beigegeben sind, zeigen diese regelmässigen Anordnungen der Unterschiede
von Beobachtung und Rechnung sehr deutlich. Es ist wahrscheinlich, dass in dieser Beziehung die
Neumayer’sche Potentialberechnung einen merklichen Fortschritt gegenüber den früheren auf unvoll
kommenerer Grundlage beruhenden, insbesondere also gegenüber der Gaussischen aufweiseD wird.
Dagegen tritt kein solcher Fortschritt in Beziehung auf die Grösse der Abweichungen hervor; eine wesent
liche Verringerung derselben wird nicht erreicht. Aber dieselben Abweichungen, welche bei dem ersten
von Gauss unternommenen Versuche als eine Folge der damals vorhandenen Ungenauigkeiten und Lücken
der empirischen Daten gelten konnten, überschreiten heute weit die beträchtlich verengerten Grenzen, welche
den möglichen Betrag dieser störenden Umstände einschliessen. Und somit führen die wiederholten Be
mühungen, eine befriedigende Darstellung der erdmagnetischen Erscheinungen auf Grund der von Gauss
entwickelten Theorie zu geben, mit wachsender Bestimmtheit zu dem Schluss, dass dies auf dem bisher
ausschliesslich benutzten, von dem durch die strenge Theorie vorgezeichneten Pfade mehrfach abweichenden
Wege nicht möglich sei.
Es ist das Verdienst von Herrn Neumayer, dies klar erkannt und bestimmt ausgesprochen zu haben.
Er bezeichnet es als den hauptsächlichsten Zweck seines vorher genannten sowie eines denselben ergänzenden
auf der Naturforscher-Versammlung zu Heidelberg gehaltenen Vortrags,*) die Aufmerksamkeit auf die
Unzulänglichkeit der bisherigen Versuche zu lenken und dadurch die Anregung zur weiteren Ausbildung
der theoretischen Grundlage derselben zu geben.
Worin diese Weiterbildung zu bestehen hat, ist leicht einzusehen. Es wird wenige Fälle der Anwen
dung mathematischer Theorien auf Naturerscheinungen geben, in denen man sich nicht anfänglich mit
einer durch Einführung mannigfacher Vernachlässigungen vereinfachten und abgekürzten Darstellung begnügt
hätte. So lange die hierdurch verursachten Fehler die Unsicherheit der Beobachtungen nicht erreichen, ist
*) Die Ergebnisse einer Neuberechnung der erdmagnetischen Konstanten. Yortrag gehalten von Herrn G. Neumayer-
Hamburg in der Physikalischen Sektion der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Heidelberg, 1889.