Archiv 1897. 3.
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No. 3.
Die Oberfläckenströmungen bei Gjedser-ßiff.
Ein Beitrag zur Physik der Ostsee
von ]>ir. Fr. Schulze-Lübeck.
„Die genaue Erforschung der verschiedenen Gebiete der Winde und der Strömungen des Ozeans zu
Zwecken der Förderung der Seeschiffahrt muss allen jenen, welche in Verbindung mit einem wohlorgani-
sirten Systeme maritimer Meteorologie wirken wollen, in erster Linie besonders anempfohlen werden. Allein
auch der Einzelne kann auf diesem Gebiete Werthvolles leisten, sei es durch selbstständige Beobachtung,
sei es durch Sammeln von Material oder durch Anregung Anderer.“ Diese Ermunterung giebt Prof. Dr.
Neumayer in seiner „Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen“, 2. Auflage, p. 562, in
Bezug auf Stromuntersuchungen. Mich lenkte sowohl diese Aufforderung, mehr als ein Jahrzehnt praktischen
Seedienstes, sowie eine noch längere Thätigkeit als Lehrer der Schiffahrtkunde mit ganzer Aufmerksamkeit
auf das Studium der Meeresströmungen. Die stete Berührung mit nautischen Kreisen hielt dies Interesse
warm und lebendig. Wiederholt habe ich als Beisitzer des Kaiserlichen Ober-Seeamtes in Berlin, wie bei
andern zivilgerichtlichen Untersuchungen wahrnehmen können, welche tief einschneidende Wichtigkeit für
die Sicherheit des Schiffes die Beachtung solcher Verschiebung von Wassermassen an der Meeresoberfläche
besitzt.
Dr. Otto Krümmel sagt sehr treffend im 2. Bande der Ozeanographie: „Immer haben die Meeres
strömungen darum für den praktischen Seemann an Bord, wie für den theoretisirenden Gelehrten am Studier
tisch etwas Geheimnissvolles und Dunkles, aber auch etwas Grossartiges behalten; ja man kann sagen, je
sorgfältiger das Phänomen beobachtet und studiert wird, um so imponirender erscheint es im Ganzen.
Handelt es sich doch um Bewegungen, die kontinuirlich, wenn auch langsam und im Augenblick unsichtbar
wirkend, dennoch einen sehr ergiebigen Kreislauf an der Meeresoberfläche ins Werk setzen.“
Ich habe während der Ausübung des Seemannsberufes persönlich das Gefühl der Unsicherheit genügend
kennen gelernt, das auch den erfahrensten und tüchtigsten Nautiker beschleicht, wenn er bei unsichtigem
Wetter in Gewässern segelt, von denen er nur weiss, dass Strömungen sie durchziehen, deren Richtung und
Stärke ihm unbekannt sind.
Ueber diesen Punkt äussert sich u. a. eine gewiss kompetente Stelle, das Reichsmarineamt, Segelhand
buch für die Nordsee (3. Auflage, Berlin, 1895, I. Th., III. Heft), verschiedentlich etwa folgendermaassen:
„Es ist hierbei jedoch wohl zu beachten, dass die Strömungen der ganzen Nordsee, besonders aber im
nördlichen Theil noch nicht derartig erforscht sind, dass sie ohne Weiteres in Ansatz gebracht werden
können. Ferner muss man bedenken, dass der Wind einen grossen Einfluss auf die Gezeitenströmungen
und auf den hierdurch erzeugten Niveauwechsel sowohl im freien Gebiet, wie an den Küsten ausübt, und
dass ausserdem die durch den Wind hervorgerufene Oberflächenströmung in Verbindung mit dem Tiefen
strom eine meist unberechenbare Versetzung des Schiffes zur Folge hat.“ Ferner a. a. O.:
„Das Befahren der Nordsee und des Skagerack muss, besonders wegen der unbeständigen Witterung,
der unregelmässigen Strömungen, des häufigen Nebels und Regenwetters als äusserst schwierig betrachtet
werden.“
„Die Route wird von den Seeleuten wohl als eine der beschwerlichsten angenommen. Jeder
Schiffsführer, vom Dampfer, wie Segler, wird nur mit einem gewissen Unbehagen die Aufgabe, sein Schiff
hier durchzubringen, lösen und erst beruhigt sein, wenn er die Reise ohne Unfall beendet hat. Im freien