Archiv 1897. 1,
l
No. 1.
Zur Theorie der Deviation des Kompasses.
Von Prof. Dr. C. Borgen.
Die Poisson’schen Gleichungen, auf denen die Theorie der Kompass-Deviation bisher fast ausschliess
lich aufgebaut worden ist, 1 ) sind wie bekannt nur dann streng richtig, wenn die Länge der Kompassnadel
gegen die Entfernung der störenden Eisenmassen von derselben verschwindend klein ist. Hierauf ist in den
verschiedenen über die Theorie der Deviation erschienenen Schriften mehrfach ausdrücklich aufmerksam
gemacht worden, so im „Admiralty manual for the deviations of the compass“, Appendix I, S. 109, in der
Abhandlung: „Die Lehre von den Deviationen des Kompasses“, S. 9 (in „Aus dem Archiv der D. Seewarte“,
1884, No. 5) und in dem gleichfalls von der Seewarte herausgegebenen Werke: „Der Kompass an Bord“,
S. 97, 158 und 168. In den beiden zuletzt genannten Schriften ist auch ausdrücklich hervorgehoben, dass
die Folge des Nichtzutreffens der genannten Voraussetzung die Entstehung einer sechstel- und achtelkreis
artigen Deviation 2 ) sein müsse, wofür sich auf S. 18 resp. Anhang S. XIII Beispiele finden. Es scheint
jedoch nicht, dass bisher eine Erweiterung der Poisson’schen Gleichungen auf den Fall, dass die Voraus
setzung von der verschwindenden Kleinheit der Kompassnadel nicht zutrifft, versucht worden wäre, wenigstens
ist dies dem Verf. nicht bekannt geworden. In Berücksichtigung der riesigen Eisenmassen, welche beim
Bau der modernen Kriegsschiffe Verwendung finden, und der häufig recht ungünstigen Aufstellungsorte der
Kompasse erscheint es indess nicht unerwünscht, die Gleichungen für den allgemeineren Fall aufzustellen,
wo die Kompassnadel nicht mehr als unendlich klein angesehen werden darf und die daraus sich ergeben
den Folgerungen abzuleiten, und dies ist der Zweck der nachfolgenden Zeilen.
Um zu den erweiterten Poisson’schen Gleichungen zu gelangen, ist es nothwendig, die durch das Schiffs
eisen in den drei, den Gleichungen zu Grunde liegenden, Koordinatenrichtungen auf die Kompassnadel aus
geübten Kräfte zu ermitteln, und zwar nunmehr ohne Beschränkung bezüglich des Verhältnisses der Länge
der Kompassnadel zur Entfernung der störenden Eisenmassen. Am einfachsten wird man dazu gelangen,
wenn man die Kräfte aufsucht, welche von drei parallel den drei Koordinatenrichtungen gedachten magne
tischen Stäben auf die Kompassnadel ausgeübt werden. Die Koordinatenrichtungen sind folgende: die
positive x - Axe gehe von der Mitte des Kompasses parallel der Mittschiffslinie (in welcher der Kompass
liegen möge) horizontal nach vorn, die y-Axe gehe senkrecht dazu nach Steuerbord und die z-Axe lothrecht
nach unten. Der grösseren Allgemeinheit wegen wollen wir bezüglich der horizontalen Stäbe annehmen,
1) dass dieselben nicht in der Ebene durch die Kompassnadel (der xy- Ebene), sondern um eine ge
wisse Grösse ober- oder unterhalb derselben liegen, und
2) dass die durch die Mitte des betreffenden Stabes und den Koordinaten-Anfang gelegte Vertikal-
Ebene nicht mit der xz- Ebene Zusammenfalle, oder mit anderen Worten, dass die Stäbe un
symmetrisch zur Mittschiffslinie liegen.
’) Siehe u. a.: Handbuch der Navigation. Herausgegeben von der Kaiserlichen Admiralität zu Berlin. —
Rottok: Die Deviationstheorie und ihre Anwendung in der Praxis. Berlin, 1881. —
Der Kompass an Bord. Herausgegeben von der Direktion der Seewarte. Hamburg, 1889,
wo die Deviatiousformel direkt aus den Gesetzen der Ablenkung einer Magnetnadel abgeleitet wird.
2 ) Diese den englischen nachgebildeten Bezeichnungen sind eigentlich etwas irreleitend. Nach mathematischem Sprach
gebrauch würde man unter einer halb-, viertelkreisartigen Deviation n. s. w. eine solche Deviation verstehen, welche sich der
Grösse und dem Vorzeichen nach wiederholt, nachdem der Schiffskurs sich um einen halben, viertel u. s. w. Kreis geändert
hat, während in der Deviationslehre darunter solche Deviationen verstanden werden, welche ohne Rücksicht auf das Vor
zeichen zwei, vier u. s. w. Mal ein Maximum erreichen, während das Schiff einen vollen Kreis beschreibt. Da nun einmal
diese Bezeichnungen allgemein eingeführt sind, so müssen sie auch hier gebraucht werden.