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Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte. — 1924, Heft 1.
b. Veränderlichkeit der Grundtiden.
Die Entwicklung der fluterzeugenden Kräfte nach Darwin und Borgen ergibt, daß die
Amplituden aller vom Monde abhängigen Tiden veränderlich sind, und zwar wird angenommen,
daß sie sich in genau dem gleichen Verhältnis ändern, wie die Amplituden der harmonischen Glieder
der fluterzeugenden Kraft des Mondes von der Neigung der Mondbahn gegen den Äquator abhängen.
Daß diese Annahme nicht zutrifft, soll an anderer Stelle noch nachgewiesen werden.
Ebenso weichen, wenn auch wenig, die beim Rechenverfahren benutzten Winkelgeschwindig
keiten der Mondtiden von den Phasenänderungen der harmonischen Glieder der fluterzeugenden
Kräfte ab. Da die Änderungen der Amplituden und Phasen nur langsam vor sich gehen und dem
gemäß eine lange Zeit gebrauchen, um sich überhaupt bemerkbar zu machen, ist die Änderung
innerhalb eines Jahres zunächst vernachlässigt worden; längere Beobachtungsreihen als die eines
Jahres sind bisher auch kaum zu einer einzigen Berechnung von harmonischen Konstanten ver
wandt worden. Um die für verschiedene Jahre berechneten Konstanten miteinander vergleichbar
zu machen, werden die erwähnten Abweichungen durch Verwendung der Faktoren / x bei den
Amplituden oder der Größen n x bei den Phasen nach den Gleichungen (18) oder (19) berücksichtigt.
Die Annahme, daß die Veränderlichkeit der Amplituden der Grundtiden den sich von Jahr zu
Jahr ändernden erreclmeten Faktoren f x entspricht, kann bisher noch nicht als bestätigt angesehen
werden. Schon im Jahre 1870 fand E. Roberts 1 ) bei der Berechnung der harmonischen Konstanten
von Liverpool, daß sich die Amplituden weder gesetzmäßig mit der Neigung der Mondbahn, noch
in dem Ausmaße änderten, wie es die Faktoren verlangten.
Im Report 1870 gab E. Roberts zunächst die in der folgenden Tabelle 7 angegebenen /2-Werte
für die M 2 -Tide nach den Beobachtungszeiträumen 1857/58, 1858/59, 1859/60 an (die //-Werte, mit
Ausnahme des für das Jahr 1902, sind von Darwin 2 ) veröffentlicht). Zur Prüfung der Annahme
über die Veränderlichkeit der Amplituden mit der Neigung der Mondbahn gegen den Äquator hatte
Roberts auch den Jahrgang 1866/67, in dem die Neigung der
Mondbahn fast den kleinsten Wert erreichte, während sie für
die drei früheren Jahrgänge nahe dem Höchstwert lag, der Be
rechnung unterworfen; den aus dieser folgenden R-Wert teilte
er im gleichen Report mit. Das Ergebnis dieses letzten Jahres
veranlaßte Roberts 3 ), auch noch die drei folgenden Jahrgänge
zur Auswertung heranzuziehen, die jedoch den letzten Wert be
stätigten. Es bestand nun noch die Möglichkeit, daß die Unter
schiede in den Mittelwerten (H) der ersten und zweiten Reihe
— 10.100 ft und 9.881 ft — auf Veränderungen im Flußbett zu
rückgeführt werden konnten. Daß dies jedoch nicht der Fall ist,
ergibt sich aus den Berichten von Shoolbred 4 ): die in den
Jahren 1893—1902 vorgenommenen gewaltigen Baggerungen vor und in dem Mersey haben weder merk
bare Veränderungen in den Gezeitenkurven hinsichtlich Tidenhub und Form ergeben, noch zeigen
die nach diesen Bauarbeiten von neuem ermittelten Werte (1902) für die M- und S-Tiden gesicherte
Unterschiede gegen die Werte, die aus um 40 Jahre früher beobachteten Wasserständen folgen.
Obwohl die Erfahrung gezeigt hat, daß durch die Verwendung der Faktoren f x verläßliche
Ergebnisse nicht erzielt worden sind, ist bisher von ihrer Verwendung nicht Abstand genommen worden.
Tabelle 7. Liverpool.
M 2 -Tide.
Jahrgang
I
Hu,
1857—58
28.5°
9.674't
10.03S f t
1858—59
27.9
9.812
10.136
1859—60
27.0
9.893
10.130
1866-67
18.4
10.271
9.901
1867-68
18.4
10.265
9 906
1868—69
19.3
10.121
9.807
1809—70
206
10.144
9911
1902
10.091
q British Association Report 1870, London 1871, p. 128.
2 ) Proceedings of the ltoval Society of London, Vol. 39.
3 ) British Association Report 1871, London 1872, p. 202, s. anch 2 ).
4 ) I. N. Shoolbred, The Tidal Régime of the River Mersey. British Association Report 1904 und Proceedings of the
Royal Society of London, Vol. 78.