296 Annalen der Hydrographie und Maritimen Meteorologie, August 1943.
unterschätzen wird. — Allein schon der Wille und der Wunsch, so objektiv wie
nur irgend möglich vorzugehen, kann unter gewissen Bedingungen die erforder-
liche Sachlichkeit beeinträchtigen,
Die Gedächtnisskala hat dort ihren Wert, wo es sich um Beobachtungs-
bedingungen handelt, unter denen die Linkesche Skala versagt, deren Umfang
ja relativ gering und durchaus nicht für alle Fälle ausreichend ist®). Es sei
hier in diesem Zusammenhang nur an Beobachtungen in der Troposphäre?) oder
gar in der Stratosphäre®) erinnert. Auch zur Heraushebung und Unterstreichung
besonders starker Gegensätze sind Beobachtungen dieser Art geeignet, solange
auf eine feinere Unterteilung und auf die Aufstellung längerer klimatologischer
Beobachtungsreihen verzichtet werden soll.
Die Beschreibung und Klassifizierung der Stärke und der Intensität im Ab-
lauf irgendeines Naturgeschehens nach einer im Gedächtnis niedergelegten Stufen-
folge ist ein Verfahren, das in der Meteorologie und ganz besonders in der
atmosphärischen Optik weitgehendst angewandt wird. Als einige Beispiele seien
hier angeführt: die Schätzung der Bewölkungsgröße und Dichte, die Bestimmung
der Intensität von Halos und Dämmerungsphänomenen®), die Ermittlung von
Sichtgraden und Windstärken usw, Man bezeichnet solche Folgen als „Gedächtnis-
skalen“, die sich in zwei verschiedene Gruppen einteilen lassen.
Die ideale, direkte Gedächtnisskala beschäftigt sich mit der Abschätzung
der unmittelbaren Reizwirkung, die die zu beobachtende Naturerscheinung selbst
auf das Sensorium des Menschen ausübt — auf das Gesicht, das Gefühl, das
Gehör usw, In unserm Falle ist es also die Schätzung der Stärke und der
Qualität des Reizes, den das blaue Himmelslicht auf die menschliche Netzhaut
unmittelbar auszuüben vermag. Derartige Beobachtungen setzen natürlich ein
ungestörtes, ungetrübtes und normales Sensorium voraus.
Etwas anders liegt die Sache bei der zweiten Gruppe, die die indirekten
Gedächtnisskalen umfaßt. Hier stützt sich die Schätzung nicht mehr aus-
schließlich auf irgendwelche subjektiven Empfindungen, die die betreffende
Naturerscheinung selbst unmittelbar durch Reizung des Sensoriums auslöst,
sondern auf einen Umweg durch Abschätzung der rein physikalischen (oder
chemischen) Auswirkung bestimmter Naturvorgänge auf Gegenstände unserer
Umwelt. Aus der scheinbar geleisteten Arbeit wird dann erfahrungsmäßig auf
die einer Naturerscheinung innewohnende Energie geschlossen. Man schätzt z. B.
die Windstärke weniger nach dem eigentlichen Gefühl als vielmehr nach der
Bewegung von Blättern (Beaufort 3), von Ästen (Bft 4) oder Baumstämmen
{Bft > 7) usw., den Seegang weniger nach den Bewegungen des Schiffes als
vielmehr nach dem Auftreten von Schaumköpfen oder Gischt usw. gemäß der
Petersen-Skala. Man hat hierbei immerhin einen gewissen Anhaltspunkt, der
die eigentliche Schätzung etwas objektiver und sicherer machen kann.
Im nächsten Abschnitt sollen zunächst einige optische-physiologische Be-
merkungen zu diesem Problem gemacht werden.
B. Physiologisch-optische Bemerkungen,
1. Ist für den Beobachter Farbentüchtigkeit erforderlich?
Streng genommen kommen für die Schätzung der Farbe des heiteren
Himmels (deren }drei Bestimmungsstücke Helligkeit, Farbton und Farbensätti-
gung sind) nur unbedingt farbentüchtige Menschen in Frage, die man als
normale Trichromaten bezeichnet, weil bei ihnen die Erregbarkeit aller drei
Farbkomponenten in den Zäpfchen der Netzhaut normal und aufeinander
%) Siehe Anmerkung 3 auf Seite 2951 — 7) H. Bere in Bioklimat. Beibl, 5, 62 [1938]. — % Die
Beobachtungen beim Aufstieg des russischen Stratosphärenballons am 30, I, 1934 ergaben u, a, Beschrei-
bungen der Himmelsfarbe wie dunkel-violett (13 bis 19 km Höhe), dunkles Grauviolett (20 km), veilchen-
farben (21 km) und Grauschwarz (22 km). Vgl. Bull. de l’Assoc. astr. du Nord, 1934 Februar und
März, zitiert nach „Die Sterne“ 14, 128 [1934]. — *) Siehe z. B.: W. W. Spangenberg: Über einige
Dämmerungserscheinungen, Ann, d. Hydr, u. mar. Met, 70, 206 [1942].