56 Die Schwankungen des Wasserstandes in ihrer Beziehung zur Witterung.
Im Gegensatz zu dieser Anschauung zeigte nun aber Seibt 1885, dafs die Be-
wegung des Wasserstandes in der jährlichen Periode und von Jahr zu Jahr
keineswegs so trefflich mit den Windverhältnissen übereinstimmt, wie man an-
zunehmen geneigt war;!) es konnte füglich der Wind nicht mehr als alleiniger
Urheber für jeno Schwankungen verantwortlich gemacht werden. Seibt glaubt
die Jahresperiode auf eine jährliche wiederkehrende Fluthwelle zurückführen
zu müssen, eine Verschiebung der Wassermassen des Weltmeeres im Sommer
der Nordhemisphäre von der südlichen auf die nördliche, im Winter umgekehrt
von der nördlichen auf die südliche Halbkugel. Bine solche Verschiebung
würde natürlich eine Aenderung des Wasserstandes im Gefolge haben, welche
sich auch im Stand der mit dem Ocean kommuniecirenden und von demselben un-
rollkommen abgesperrten Nebenmeere bemerkbar machen müßte. Nach Seibt
und v. Baeyer”) gelangt diese jährliche Fluth, welche der Deklination der Sonne
folgt, nur hier in den Nebenmeeren zur Beobachtung, während sie in den
offenen Oceanen durch die ununterbrochene Folge der halbtägigen Fluth- und
Ebbe-Erscheinungen völlig verdeckt wird. KEiue ähnliche Ausicht bezeichnete
1884 v. Maydell als haltlos und unbrauchbar zur Erklärung der Jahresperiode
des Wasserstandes in geschlossenen Mecren; er vermochte die Jahresschwankung
des Schwarzen Meeres überhaupt nicht zu erklären.®) Es ist dieses auffallend;
denn er gerade war der Erste, der gleichzeitig den Nachweis für den Pontus er-
brachte, dafs die Aenderung des Mittelwassers von Jahr zu Jahr als eine Folge
der Aenderung der jährlichen Niederschlagsmengen und damit der Wasserführung
der Flüsse aufzufassen sei. Es sei wmir gestattet, die überwiegende und
auch von v. Maydell noch weit unterschätzte Bedeutung des letztgenannten
Faktors, der Wasserführung der Flüsse, für den Wasserstand an drei euro-
päischen Meeren darzuthun: dem Kaspischen Meer, einem jeder Verbindung ınit
dem Ocean entbehrenden Gewässer; dem Schwarzen Meer, das nur durch den
schmalen und wenig tiefen Bosporus unvollkommen mit dem Mittelländischen Meer
and durch das letztere mit dem Weltmeer kommunicirt; und der Ostsee,
deren Verbindung mit dem Ocean eine relativ innigere und freiere genannt
werden mufs.
Die jährliche Periode des Wasserstandes.
Für die Konstatirung der jährlichen Periode des Wasserstandes im
Kaspischen Meer stehen uns zwei Beobachtungsreihen zur Verfügung, welche
zu Baku (25 Jahre) und zu Aschur-Ade, in der Bucht von Astrabad (17 Jahre),
gewonnen wurden.*) „Als Mittel aus den Resultaten der beiden gut überein-
stimmenden Reihen leitete ich die untenfolgenden Zahlen ab. Das Vorzeichen +
Dedeutet, dafs der Wasserstand über dem Jahresmittel, —, dafs derselbe unter
dem Mittel ist. Wir treffen den niedrigsten Wasserstand im März und den
höchsten im Juli und August. Die Amplitude der Schwankung beträgt über
0,3m und die Volumänderung der kaspischen Wassermasse, welche wir aus
dieser Amplitude und dem Areal des Meeres berechnen, 165 ebkm.
Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Sept, Okt. Nov. Dez.
Kaspisches Meer cm —14 —15 —16* —8 0 133. 21 22 15 2 —9 —11
Wolga (Astrachan)®5 cm —50 —60 —710* —40 120 220 100 —20 —40 —30 —50 —60
Dafs die Ursache dieser grofsen und jahraus jahrein mit fast absoluter
Gleichförmigkeit sich vollziehenden Schwankung in der jährlichen Periode der
1) Das Mittelwasser der Ostsee bei Travemünde. Publikation des Königl. preufsischen
geodätischen Instituts. Berlin 1885.
% Ueber dessen Solstitialfluth vergl. Meteorologische Zeitschrift 1885, Novemberheft.
3) Morskoj Sbornik 1884, Band 11, November. In einer Abhandlung über „Strömungen und
Wasseraustausch zwischen dem Schwarzen und Mittelländischen Meer“, welche in dieser Zeitschrift
1886 S. 532 erschien, wird unrichtig hervorgehoben, dals v, Maydell die nach den Monaten
wechselnde Wasserführung der Flüsse für die Jahresschwankung des Pontusspiegels verantwortlich
mache; diese Anschauung wurde von mir im Gegensatz zu v. Maydell in einem Referat über
des letzteren Abhandlung in der Zeitschrift „Naturforscher“ vom 27. Februar 1886 ausgesprochen.
4) Veröffentlicht von Filipof, Schwankungen des Wasserstandes im Kaspischen Meer.
Morsko) Sbornik 1880 No. 7 und 8 (in russischer Sprache).
5) Nach Woeikof,. Klimate der Erde (Jena 1887), Tafel XXIII.