Gerhard Neumann: Eigenschwingungen der Ostsee
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EINLEITUNG.
In jeder ganz oder teilweise abgeschlossenen Wassermasse treten Schwingungen mit bestimmter Periode
auf, die man als freie Schwingungen, Eigenschwingungen oder vielfach als Seiches bezeichnet. Solche Schwin
gungen werden durch einen einmaligen Impuls erregt und würden unabhängig von der Einwirkung äußerer
Kräfte weiterbestehen, wenn nicht durch dissipative Kräfte die Bewegung allmählich erlöschen würde. Die
Bewegung der Wassermasse entspricht der einer stehenden Welle. An den Enden des schwingenden Beckens
sind die vertikalen Wasserverschiebungen am größten, die horizontalen dagegen Null. Die langsamste Schwingung,
die in der Mitte des Schwingungsbeckens eine Knotenlinie und an den Enden Schwingungsbäuche hat, bezeichnet
man als die einknotige Eigenschwingung des Systems. Neben dieser einknotigen oder Grundschwingung können,
auch mehrknotige Schwingungen — Oberschwingungen — auftreten. Die Periode dieser Schwingungen hängt von
der Länge und den Tiefenverhältnissen des Seebeckens ab. In flachen Binnenmeeren und in Meercsteilen, in
denen die Länge des schwingenden Wasserbeckens erheblich größer ist als die Tiefe, kann die Schwingungsdauer
bis zur Größe eines Tages anwachsen. So wird auch die langgestreckte und verhältnismäßig flache Ostsee auf
bestimmte Schwingungsdauern abgestimmt sein und Eigenschwingungen ausführen, über deren Periode, Hub
höhenverteilung, Häufigkeit des Auftretens usw. aber noch wenig bekannt ist. Seit W i 11 i n g s (38) Unter
suchungen über die Gezeiten der Ostsee wurde nicht mehr der Versuch gemacht, die Schwingungseigenschaften
dieses Meeresteils theoretisch oder durch Analyse der Mareographenaufzeichnungen zu ermitteln. Den damaligen
theoretischen Grundlagen entsprechend hat W i 11 i n g die Perioden der ein- und dreiknotigen freien Schwin
gung nach mehreren Methoden berechnet, die aber untereinander zu sehr verschiedenen Ergebnissen führten. Aus
diesen bestimmte er dann unter gewissen, teilweise widersprechenden Annahmen angenähert die wahrschein
lichste Schwingungsdauer.
Lange Zeit ließ man die Frage nach den Eigenschwingungen der Ostsee gänzlich unberührt, bis vor einigen
Jahren von russischer Seite ( D u b o w [12]) Versuche an einem Bcckcnmodell vorgenommen wurden. Dabei
wurden verschiedene Perioden ermittelt, die aber im Widerspruch zu den Beobachtungen stehen. Die von
S o v e t o v (33), 11 j i n a (20) und R u d o w i t z (31) beobachteten seichesähnlidhen Schwingungen und auch
die von O. Meißner (27, 28) als „Seiches der Ostsee" bezeichncten Seespiegelschwankungen können wegen
ihrer kleinen Schwingungsdauer nicht zu den Eigenschwingungen der ganzen Ostsee gerechnet werden; sie stellen
gewiß nur Bucht- und Uferschwingungen kleiner Teile der Ostsee dar.
Beobachtungen von Wasserstandsschwankungen längerer Periode findet man in der Literatur nur vereinzelt
und dann ausschließlich im Zusammenhang mit den Überschwemmungen im Finnischen Meerbusen erwähnt.
Nach der letzten großen Überschwemmung in Leningrad im September 1924 trat die Frage nach den Ursachen
dieser Hochwasser sehr in den Vordergrund. Aber die Ansichten der Forscher über die Bedeutung der ver
schiedenen Faktoren, die zur Entstehung der Hochwasser beitragen, gehen weit auseinander. [W i e s e (37),
Kaminsky (22), Berg (1).] S. E. S t e n i j (34) hat den Fall vom 23. September 1924 vor ein paar Jahren
aufs neue sehr eingehend studiert und findet, daß die außergewöhnliche Größe des Hochwassers am Ende des
Finnischen Meerbusens durch das Zusammentreffen verschiedener Umstände zu erklären ist. Neben einer fort
schreitenden Welle läßt er auch die Möglichkeit einer stehenden Welle zu und führt einen, wenn auch nur
geringen Teil des wirklich beobachteten Hochwassers auf die Existenz dieser stehenden Welle zurück. „Um
die entstehenden Schwingungen bis ins einzelne Voraussagen zu können, müßte man die Schwingungseigen
schaften des Ostseebeckens im einzelnen kennen. Dies ist aber ein Problem, das noch seiner Lösung harrt“,
schreibt S t e n i j in der eben erwähnten Arbeit und geht auch nicht weiter auf das Problem der Eigen
schwingungen der Ostsee ein, sondern begnügt sich mit einer rohen Schätzung der Periode der einknotigen
Schwingung.
In seiner letzten Arbeit hat auch E n d r ö s (13) auf die Möglichkeit des Vorhandenseins freier Wellen
in der Ostsee hingewiesen und einige vermutliche Periodenlängen angegeben, ohne aber die von ihm behan
delten Wasserstandsschwankungen über die ganze Ostsee hin näher zu verfolgen oder nach anderen Beispielen
zu suchen.