Joachim Blü tilgen: Geographie der winterlichen Kaltlufteinbrüche in Europa. 129
Das Frühjahr bringt auch für den Nordwestraum etwas veränderte Verhältnisse mit,
die sich zunächst auf den Generalnenner: Intensivierung der Kaltluftzufuhr brin
gen lassen. Die NW-KE halten nun etwas länger an und bilden ein sekundäres Maximum, das
allerdings zahlenmäßig nodr unter dem herbstlichen liegt. In den südlicheren Teilen des Nord
westraumes liegt es im März, in den nördlicheren dagegen erst im April. Was die Intensität
der zufließenden Kaltluft betrifft, so ist zweifellos jetzt das Maximum anzutreffen. Es treten
tiefe Advektionstemperaturen auf, und in den hohen Lagen Islands kommt es dann zu ge
waltigen Schneeunwettern. Beispiele dafür gibt uns die eindrucksvolle Schilderung H. W. Ahl-
manns (Pä skidor och tili häst i Vatnajökulls rike. Stockholm 1936). Der stärker winterliche
Charakter der Vorstöße über Island zu dieser vorgeschrittenen Zeit pflanzt sich in abgeschwächtem
Maße auch südostwärts fort. Ein Teil der Schneeunwetter Mitteleuropas zur Zeit des Aprilwetters,
aber nur ein kleiner Teil von ihnen, ist auf NW-KE zurückzuführen. Wie wir ja sahen, brauchen
Nordwestwinde mit Schneesdiauern in Mitteleuropa durchaus keine NW-KE zu sein, sondern
nur abgelenkte Nsk-KE. 41 ) Da clie Nordwestluft jedoch in Gebiete stärkerer Einstrahlung vor
stößt, wird sie hier rasch erwärmt. Immerhin ist das Frühjahr Englands zufolge der maritimen
Polarluft unfreundlich, kühl und wechselhaft. Im Gegensatz zu Mitteleuropa sind Nsk-KE an
clem englischen Aprilwetter seltener beteiligt, fehlen aber keineswegs.
Die in England sprichwörtliche Märzkälte ließe sich auf sie zurückführen, jedoch handelt
es sich dabei ebenso oft auch um reine NO-KE, die bis zu den Britischen Inseln vorstoßen. Da
gegen bilden clie „borrowing days‘' vom 11. bis 14. April einen typischen Vertreter des eng
lischen Aprilwetters. Der Name leitet sich nach Abercromby (1883) noch von der Zeit des
julianischen Kalenders her, als sie auf Ende März fielen und sozusagen vom April „geborgt“
waren. 42 ) Hierher gehört auch der Kälterückfall Anfang April, der „blacktliorn winter“ (Tal-
man, 1921), der seinen Namen von der durch den warmen Märzausgang hervorgerufenen
Schwarzdornblüte hat, die danach clie besagte Kälte zu überstehen hat. Die Realität verschie
dener Singularitäten im Sinne Buch ans wird allerdings angezweifelt (Preston, J930).
Im Frühjahr ist das „Storis" am stärksten eisführend, nicht selten gelangt Eis in die Fjorde
Nordislands, in den letzten Jahren allerdings seltener als früher. Die Nähe des Eises be-
d ingt daher für Island ein langes Hinausschieben der Zeit der Polarluft
vorstöße. Die Wahrscheinlichkeit der Zufuhr kalter Luft mit winterlichen Erscheinungen,
also Frost bzw. Schneefall, besteht praktisch sogar clen ganzen Sommer über. So berichtet
Soltau (1930, S. 73—84) von einem Polarluftvorstoß am 2. Juli 1929, der an der Nordküste im
Meeresniveau Sdineefall brachte und in Fagridalur bei Nordwind Stärke 7 eine Morgentempe
ratur von +3° bewirkte. Es ist hierbei zu berücksichtigen, daß Nordisland um diese Zeit fast
24stündigen Sonnenschein hat, die Temperatur von + 3° also bei theoretisch voller Einstrah
lungsmöglichkeit gemessen wurde. Aber diese meist kurzfristigen und nicht sehr ausgedehnten
Reminiszenzen an den Winter versdiwinden in den Wetterberichten fast ganz. Das angeführte
Beispiel zeigt jedoch, daß selbst der Juli in Island nicht immer frei von KE ist, wenn wir diesen
Begriff räumlich sehr eng fassen. Diese Tatsadie können wir von clem z. T. nördlicher liegenden
Lappland nicht in dieser Form sagen. Die Ursache dieses wichtigen Unterschiedes ist eindeutig:
das Kaltluftquellgebiet Nordostgrönland mit dem vorgelagerten Eisstrom bleibt auch im Hodi-
sommer Island nahe, nordwärts von Lappland folgt jedoch eisfreies Meer, dessen Breite im
Hoch- und Spätsommer besonders groß ist (Eis erst nördlich von Spitzbergen und bei Franz
joseph-Land).
Anfang Juni ist über Island sogar noch eine sehwadie Häufung von Polarluftvorstößen mit
winterlichen Erscheinungen festzustellen. Wie sdion an anderer Stelle (S. 117) vermerkt, ist dies auf
die großzügige Änderung des Ström ungsbildes über ganz Europa zurück zufiih ren.
41 ) Eine Vermengung beider Begriffe tritt allzu leicht ein und kann /,. B. zu folgender reichlich unklarer For
mulierung führen (Fischer, 1914, S. 160): ..In der Nacht vom 24. zum 25. Mai brachten die kalten nördlichen und
nordöstlichen (!) Winde clie Kältewelle aus Island (!) nach NW- und W-Deutschland.“
4 -) Der Gregorianische Kalender wurde 1582 eingeführt: man sprang in diesem Jahr vom 4. Oktober gleich auf
den 15. Die Daten der Wetterwendepunkte älterer Bauernregeln müssen also um 11 Tage riickverlegt werden
(Dieckmann, 1954).