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Joachim Blii tilgen: Geographie der winterlichen Kaltlufteinbrüche in Europa.
am Boden, insbesondere durch aerologische Beobachtungen weiter zu verfolgen. Dies würde
jedoch dem hier von vornherein gesteckten Ziel zuwiderlaufen, wollte man die Äquivalent
temperatur zur Abgrenzung und Feststellung der Lebensgeschichte eines KE heranziehen.
Die zuvor zugestandene Dehnbarkeit hinsichtlich der 0°-Grenze als Schwellenwert des Win
ters geschah nur aus praktischen Erwägungen heraus: ein KE über Nordeuropa im Mai mit
Morgentemperaturen von etwa 2 bis 3° über Null vermag sehr wohl nachts Frost gebracht zu
haben: zur Zeit des Morgentermins steht zu dieser Zeit und in diesen Gegenden die Sonne
schon mehrere Stunden lang über dem Horizont! 1 *) Um die Fehlerquelle der durch Ein
strahlung modifizierten Morgentemperaturen etwas zu mindern, ist also hier, ganz besonders
gegen das Frühjahr hin, eine Überschreitung der 0°-Werte als Charakteristikum für einen
echten KE in unserem Sinne direkt erforderlich. Ebenso werden auch Werte wenig über 0°,
clie randlich zu einem sonst unter 0° temperierten KE liegen und durch einen mehrgradigen
Temperatur Sprung gegen noch wärmere Luftmassen deutlich abgesetzt sind, unbedingt mit
zu dem Areal des KE gerechnet werden, besonders bei Schneefall (vgl. Aujeszky, 1955).
Folgendes Beispiel möge das soeben Gesagte erläutern. Am 25. Februar 1928 befand sicli über dem mittleren
und östlichen Europa ein ausgeprägter Kaltluftstrom aus SO, der einem dort lagernden Hodi entstammte. Über dem
Skandik erstreckte sich von Spitzbergen aus siidwestwärts eine Tiefdruckrinne, deren Zentralkern bei Spitzbergen lag,
die sich selbst östlich an Jan Mayen und unmittelbar westlich an den Färöern vorbei bis westlich von Irland er
streckte, also ungefähr in der Mitte der Längserstreckung des Nordatlantik — Skandik verlief. Zwischen dieser Furche
und dem besagten kontinentalen SO-Strom strömten über England und Irland bis hinauf zu den Färöern und der
norwegischen Küste sehr milde Luftmassen nordwärts. Umgekehrt drang in Island, das auf der Rückseite der ge
schilderten Tiefdruckrinne lag, kalte Luft vor, und dieser Kaltluftvorstoß ist es, der uns hier besonders interessiert.
Während Thorshavn 7° bei SW 5 meldet. Blacksocl in Westirland 8° bei S5, gestalten sich die Verhältnisse für
Island nadi den Meldungen folgendermaßen: Isafjord —2° WSW 2 Schnee, Reykjavik —1° WSW 5 Schnee, Seyclis-
fjord 0° W 4 und Vestmanö 2° W 7 Graupelschauer (vergleichsweise sei noch Jan Mayen mit —8° und W6 erwähnt).
Es ist nach dem Gesamtbild der Wetterkarte ganz außer Zweifel, daß der Pluswert in Vestmanö unbedingt noch zu
dem übrigen durch tiefere Temperaturen über Island gekennzeichneten KE gerechnet werden muß, worauf ja auch
die Hyclrometeormeldimg (Graupelschauer) hinweist. Zudem ist der, wenn audi etwas verschleppte KE über Island
gegen die weiter im Südosten vor dringende Warmluft durch einen konstanten Windsprung abgegrenzt. Auf das
soeben angeführte Beispiel werden wir noch zuriiekkommen, wenn wir den räumlichen Rhythmus zweier KE-Typen
bespredien.
Aus der erwähnten Erkenntnis heraus, daß vom geographischen Standpunkt aus gesehen
die 0°-Grenze wichtiger ist als die Äquivalenttemperatur oder andere Ausdrucksmittel des
Energiegehaltes, clie der Meteorologe verwendet, ergibt sich somit für clie vorliegende Arbeit
die notwendige Begriffsdefinition, die bewußt die Jahreszeit mit dem KE als solchem kombi
niert. Das Ziel dieser Arbeit ist daher nicht in erster Linie ein Beitrag zur
Behandlung des Problems ., K al 11 uf t e i nb r u c h sondern zur Behandlung
der dynamischen Struktur des Winters eines gegebenen Raumes. Dies
betont herauszustellen ist erforderlich, um die hier verwendete Begriffsclefination eines KE
zu rechtfertigen.
Ein KE erscheint als ein komplexes Gebilde, das sich zwar als Ganzes im Luftraum ab
hebt — vornehmlich gekennzeichnet durch clie einheitliche Bewegungsrichtung mit, allerdings
nicht immer zur Nachbarschaft niedrigerer Temperatur —, das aber in sich zu gliedern ist. Eine
solche Gliederung setzt aber voraus, daß sein Areal nicht zu klein ist. Es gibt daher eine
untere Grenze für die Anerkennung als KE (vgl. Kartzow, 1928). Selbstverständlich wird
vereinzelt auftretender Frost bei Strahlungswetter in einem nicht durch einheitlichen Luft
transport gekennzeichneten Bereich nicht als KE bezeichnet werden können; das Thema lautet
ja auch nicht „Geographie des Frostes“. Selbst eine einmalige Berührung z. B. NW-Islands an
einem Tage mit Frost, die nur in Isaf jord, sonst in Island aber nirgends spürbar ist, wird als
geringfügig weggelassen w erden können — sofern sie nicht der Auftakt für eine weitere Aus
breitung ist, und sofern sie nicht auf ein größeres, durch Beobachtungen nicht belegtes Bereich
des KE über dem Skandik selbst schließen läßt. Wir können also in diesem Zusammenhang als
13 ) Außerdem ist der Unterschied zwischen Ortszeit und Landeszeit zu beachten: z. B. hat Vardö auf 50° ö. L.
MEZ, das auf dem 21. Grad ö. L. gelegene Vaasa dagegen OEZ. Die Messungen sind daher in bezug auf den Sonnen
stand alles andere als gleichzeitig, in Vardö eine volle Stunde zu spät! Vgl. Bolinstedt, 1932, S. 50.