Vorwort.
W enn es bei der Abfassung einer Schrift über Sonnenuhrkunde dem Autor nicht erspart bleibt, stich
haltige Gründe anzuführen, die ihn zur Vermehrung der so reichhaltigen Literatur veranlaßten, sei es, daß
er einen von den gewöhnlichen Traktaten abweichenden Weg der Methodik einschlägt, sei es, daß er durch
sein historisches Wissen Aufklärung in gnomonische Fragen zu bringen sucht, über welche die Akten noch
keineswegs geschlossen sind, so befindet sich hingegen der Schreiber einer arabischen Gnomonik in der
angenehmen Lage, seine Leser in ein überaus reizvolles Gebiet einführen zu dürfen, in welchem tiefere
Kenntnisse sehr wenig verbreitet zu sein scheinen. Schon die ersten Kapitel dieser Abhandlung werden zeigen,
daß die Entwicklung der arabischen Sonnenuhrkunde eine ganz andere war, als die der griechischen und
occidentalen, deshalb auch Erzeugnisse aufweist, welche der uns geläufigen Gnomonik vollständig fehlen.
Der tiefere Grund hiervon ist in dem islamitischen Religionskultus gegeben, in dessen Dienst der
arabische Astronom die Sonnenuhr von jeher mit Vorliebe stellte, da er gleichzeitig Diener der Religion
war. Leider ist jedoch unser Wissen in der arabischen Gnomonik noch recht lückenhaft, wie ich schon in
meinem Aufsatz: „Die Sonnenuhren der Araber in ihrer Bedeutung für die arabische Astronomie und Religion“
(Natunviss. Wochenschr., Jahrg. 1911, pag. 241 ff.) beklagt habe, und am allerwenigsten sind wir aufgeklärt
über den Zusammenhang der Sonnenuhr mit den religiösen Praktiken der Mohamedaner. Es ist nicht richtig,
was It. Sonndorf er in seinem sonst so trefflichen Buche: „Theorie und Konstruktion der Sonnenuhren“
(Wien, 1864, pag. 16) behauptet, daß die Konstruktionen in Abul Hassans Werke: „Gämi el-mabädi
welgäjät“, (das Ganze der Anfänge ¡Prinzipien] und der Enden [Resultate]), welches uns in einer fran
zösischen Übersetzung von J. J. Sedillot vorliegt, „fast alle religiösen Gebräuchen dienen“. Abul
Hassan teilt uns in dieser Hinsicht nichts mit; von diesbezüglichen Schriften, die in der Regel von Gebets
rufern verfaßt sind, ist noch garnichts in europäische Sprachen übersetzt. Außereuropäischer Sprachen nicht
mächtig, mußte ich mich damit begnügen, über diese eigenartige „religiöse Geometrie“ das mitzuteilen, was ich
zerstreut in verschiedenen Kompendien und Monographien fand und es zu einer mathematischen Theorie zu
vereinen, wie sie sich im 4. und 5. Kapitel findet. Zum ersten Mal ist hier, m. W., eine völlig exakte Be
handlung der Temporärstunden und -stundenlinien gegeben, deren graphische Darstellung sich für die Breiten
<p = —30° und f = 45° findet. Ebenso sind die merkwürdigen Hafir- und Halazüncurven des Ab ul
Hassan einer mathematischen Diskussion unterworfen worden, wie ich denn keineswegs Bedenken trug,
dem Leser nicht nur gnomonische Kenntnisse, sondern auch Bekanntschaft mit den Anfangsgründen der
höheren Mathematik zuzumuten.
Essen a. d. R., im Mai 1912.
Dr. Carl Schoy.